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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Einstellung. Es reizte sie, diesen behüteten Bürger, der nichts von Hunger und Elend wußte, zu dem Glauben zu bekehren, dem sie anhing. Aber die Predigten über die dialektische Methode verstummten nach und nach. Es war eigentlich nicht klar zu ersehen, warum. Sie verstummten. Das wäre alles, was sich sagen ließe. Statt der Predigten kamen dann Spaziergänge über Land (Jakob schwänzte gewissenhaft die Schule und sein Bruder Isaak, der Advokat, beklagte sich, weil er allzuviele Entschuldigungsschreiben verfassen mußte, ließ dann aber in seiner Kanzlei einige Dutzend Entschuldigungsformulare herstellen, auf denen nur das Datum freigelassen war, unterzeichnete sie, und überreichte »diese Blankoschecks für Schuleschwänzen« dem jüngeren Bruder, mit der Bitte, ihn von nun an mit derartigen Miseren zu verschonen). Es kamen Spaziergänge über Land, Nachmittage am See in der Sonne. Jakob lernte richtig schwimmen, was vielleicht nützlicher war als kommunistische Theorie, hier kommt es wirklich auf den Standpunkt an, den man einnehmen will, und, mein Gott, die beiden kamen gut miteinander aus. Jakob glaubte, daß seine Freundin als Sekretärin bei der offiziellen Sowjetdelegation angestellt sei, von Baranoffs Vorhandensein hatte er keine Ahnung.
    Untersuchungsrichter Despine hatte für dienstliche Obliegenheiten kein Zimmer, sondern ein Gemach zur Verfügung: trotz seiner stattlichen Postur wirkte er in diesem Raum eher klein, denn die Decke war hoch und mit vielen weißen Ornamenten verziert. Untersuchungsrichter Despine zeichnete sich durch eine vollkommene Glatze aus, der Haarmangel erstreckte sich über sein Gesicht und auch über seine Hände, die klein waren, mit spitzzulaufenden Fingern, so daß sie an Maulwurfspfoten erinnerten. Er hatte eine Konferenz einberufen, an der Kommissar Pillevuit und der Journalist O'Key teilnahmen.
    Auf dem großen Schreibtisch, hinter dem Despines Gestalt wie eine Schießbudenfigur wirkte, lagen Gegenstände verstreut, mit denen sich des Untersuchungsrichters kahle Hände eifrig beschäftigten. Es war zu sehen: eine Flasche mit eingeschliffenem Stöpsel – und auf der Glaswand war weiß ein gespenstischer Finger abgedrückt – ein schwarzer Wollshawl, ein gelbes Band, ein zerknittertes Pergament. In der Hand hielt Despine die Münze, besah sie angestrengt durch eine Lupe und schüttelte von Zeit zu Zeit ratlos den Kopf. In einem Armstuhl, am Fenster, saß O'Key und rauchte. Pillevuit hingegen hatte sich in einem Klubsessel versteckt, von ihm war eigentlich nur ein Schimmer des leuchtend gelben Fahnenbartes zu sehen.
    »Unglaublich«, sagte Herr Despine, »daß solche Dinge heutzutage möglich sind. Götzenanbetung! Hier in Genf! Man sollte doch meinen, Calvin habe die Luft der Stadt gereinigt von jeglichem Unsinn, vom heidnischen sowohl, als auch vom baptistischen… Verzeihung«, sagte er und neigte den blanken Schädel gegen O'Key, »ich glaube, Sie sind katholisch, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
    »Bitte, bitte«, winkte O'Key gnädig ab. »Wir sind hier ja nicht auf einem Konzil, um Religionsfragen zu diskutieren, sondern…«
    »Haben Sie eigentlich diese Jane Pochon vorgeladen oder nicht?« fragte Pillevuit aus seinem Klubsessel heraus, ungeduldig und gereizt. »Kommt das Frauenzimmer? Ich habe meine Zeit nicht gestohlen…«
    »Sie kommt, lieber Kommissar, sie kommt ganz bestimmt. Aber ich habe eine Bitte. Ich möchte keinen Schreiber zuziehen. Das Verhör soll nicht offiziell sein, uns nur zur Orientierung dienen. Kann einer der Herren stenographieren?«
    »Ich«, sagte O'Key vom Fenster her und hob dabei die Hand wie in der Schule. Der Kommissar grunzte.
    Schweigen. Dann war von draußen durch die Tür ein zitterndes Klingeln zu hören, die Tür öffnete sich und ein Gerichtsdiener stand da, lang und bleich.
    »Ist Frau Pochon schon da?« fragte Despine mit quäkender Stimme. Der Diener verneigte sich. »Führen Sie die Dame herein.«
    Pause. Dann trat ein, angetan mit einem schwarzen Seidenkleid, das in allen Nähten krachte, Frau Jane Pochon. Sie war rot, dreifache Falten quollen unter ihrem Kinn, auf ihrem Haupte lag waagrecht, gehalten von einem grauen Haarknäuel am Hinterkopf, ein mit Federn geschmücktes, schiffartiges Gebilde. Der Rock schleppte nach, er verbarg die Füße. Irgendwie gemahnte Frau Pochon an jene riesigen Figuren, die auf dem Karneval in Nizza durch die Straßen geschleppt werden. Sie nahm auf einem Stuhle Platz, den ihr Herr Despine

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