Der Tee der drei alten Damen
zusagenden Mittagstisch zu finden. Jakob haßte von Jugend auf öffentliche Abspeisungen, als da sind alkoholfreie Wirtschaften, Crèmerien oder wie sonst sich solch öffentliche Fütterungsstellen zu nennen belieben. Auch hier hatte der Staatsanwalt »hilfreich eingegriffen« und sich an eine alte Dame erinnert, die in der Rue Verdaine eine riesige Wohnung bewohnte, allein mit einem tyrannischen Mädchen für alles und dem Schatten ihres verstorbenen Freundes; dieser Freund war erst nach seinem Tode eine Berühmtheit geworden, durch ein nachgelassenes Tagebuch nämlich, das an selbstquälerischer Bespiegelung seines Innenlebens seinesgleichen suchte. Dieses ältliche Fräulein, Célestine Honorine Benoît mit Namen (als Schriftstellerin unter dem Pseudonym »Agnès Sorel« bekannt), war von einer so unförmlichen Häßlichkeit, so daß sie wieder schön wirkte, wie eine rassenreine Bulldogge. Negerlippen, kurzgeschnittene, ewig verfilzte graue Haare, so hockte sie vor ihrem Schreibtisch und verfaßte antike Tragödien, in schwungvollen Alexandrinern. Außerdem schwärmte sie für Voltaire und den Spiritismus; wie sie diese beiden Begeisterungen zu vereinigen vermochte, war ihr Geheimnis.
Jakob Rosenstock war lange der einzige Pensionär Fräulein Sorels gewesen (wir wollen ihr Pseudonym beibehalten, da es die Dichterin ihrem richtigen Namen vorzieht). Erst seit zwei Monaten war ein neuer Gast aufgetaucht, eben jene Natalja Kuligina, und Fräulein Sorel tat geheimnisvoll, wenn sie über die Herkunft ihres neuen Gastes befragt wurde. Die Sache war übrigens höchst einfach. Fräulein Sorel war nicht reich, manchmal war sie auf die wohlwollende Unterstützung verschiedener Mäzene angewiesen, aber die Mäzene wurden rar, und so hatte Fräulein Sorels Mädchen einfach eine Annonce in der ›Tribune‹ aufgegeben, auf welche Annonce hin eines Tages ein Herr erschienen war, klein und fremdländisch, mit einer großporigen Gesichtshaut, die unsauber wirkte, um für seine Schwester (so behauptete er) ein Zimmer zu mieten. Fräulein Sorel aber hatte sich in diese »Schwester«, die am nächsten Tag erschienen war, auf ihre sonderbar enthusiastische Art verliebt, nannte sie Natascha, betrachtete sie als die Verkörperung Rußlands und sah in ihr eine lebendig gewordene Heldin Dostojewskys, eines russischen Schriftstellers, den sie zu verabscheuen vorgab, den sie aber heimlich, mit glühenden Wangen verschlang, wie ein Junge im Pubertätsalter die Memoiren des Casanova; da aber das alte Fräulein alle näheren Bekannten idealisieren mußte, sah sie auch im jungen Jakob eine Art Cherubin. Sie war nicht prüde, denn sie liebte das galante Jahrhundert, das achtzehnte nach unseres Herrn Geburt, und leistete naive Kupplerdienste. So kam es, daß sich Jakob Rosenstock in die Agentin 83 verliebte, die in Genf unter dem Namen Kuligina auftrat, deren Mission es war, den Agenten Baranoff (Nummer 72) zu überwachen; denn dieser war verdächtig, für die eigene Tasche zu arbeiten, was gegen die Prinzipien von Hammer und Sichel ist.
Es ist, glaube ich, eine alte Tatsache, daß Jünglinge mit sogenannten geistigen Interessen für schöne Frauen nicht viel übrig haben. Um Magazinschönheiten zu verehren, braucht es ein vollgerütteltes Maß Dummheit. Darum war es ein Glück für Jakob, daß Natascha nicht schön war. Ich weiß, für eine Spionin wäre der Vamptypus am Platze, aber ich kann Ihnen leider nicht helfen: die Regierungen, die Spioninnen beschäftigen müssen, holen sich gewöhnlich weder bei Feuilletonromanciers noch bei Kinoregisseuren Rat. Natascha fiel nicht auf. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht, schlichtes schwärzliches Haar, das manchmal silbern schimmerte, wie eine Rappenmähne. Sie glich einem schlanken Seehund, und wie ein solches Tier konnte sie auch gut schwimmen. Einmal hatte sie zum Spaß den Weltrekord für Brustschwimmen um zwei Fünftelsekunden geschlagen, aber sie durfte an keiner Konkurrenz teilnehmen, ihr Beruf verbot ihr dies. Wie sie aber zu diesem Beruf gekommen ist (denn Spionage ist schließlich ein Beruf wie Gärtner, Generaldirektor, Pfarrer oder Einbrecher), ist eine andere Geschichte.
Jakob kannte die Agentin 83 seit einem Monat und nannte sie Natascha. Zuerst hatte das alte Fräulein Sorel die beiden nach dem Mittagessen allein gelassen. Dann saßen sie gewöhnlich auf einem alten verschnörkelten Sofa, das grün überzogen war. Natascha hatte dem Jungen gegenüber zuerst eine etwas merkwürdige
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