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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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in der Tür. In seinem Mundwinkel steckte eine dicke Zigarre. Der Rauch schien ihn zu stören, denn er hatte die Augen zugekniffen.
    »Seit wann rauchst du am Morgen?« fragte der Advokat erstaunt. Aber er erhielt keine Antwort. Wladimir ging mit seinen gleitenden Schritten zur Tür. »Lebt wohl!« sagte er über die Achsel und war verschwunden.
    »Ich gehe heute nicht ins Collège, Isaak«, sagte der Gymnasiast.
    »Das interessiert mich nicht. Ich habe dir ein für allemal die Blankochecks zum Schulschwänzen eingehändigt. Plag mich nicht mehr mit diesen Sachen. Was hat nur Wladimir?« fragte der Advokat leise.
    »Das möchte ich auch gerne wissen.«
    »Ich muß fort, mein Gott, schon halb neun. Laß dir's gut gehen, schau nach dem Professor. Wenn etwas passieren sollte, kannst du mich ja anrufen.«
    »Passieren!« rief Jakob verächtlich. Aber der Advokat hatte schon das Zimmer verlassen.
    Jakob legte sich auf die Couch, die in einer Ecke des Zimmers stand. Auf dem niederen Tischchen daneben lagen ein paar Bücher. Zerstreut griff er nach dem, das ihm am nächsten lag, blätterte, blieb an einer Seite hängen und las:
    »Triste, triste était mon âme
A cause, à cause d'une femme…«
    Er konnte nicht weiter lesen, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, er mußte sich schneuzen – aber zuvor warf er das Buch wütend in eine Ecke. Und doch war der selige Verlaine ganz unschuldig an seinem Schmerz.
    Jakob wurde die Erinnerung an Nataschas Blick nicht los. So wie den Fürsten hatte sie ihn nie angesehen. Natürlich, dieser Maharaja, dieser Hochstapler! Natürlich, er war elegant, er war romantisch. Aber, daß Natascha, die ihm immer von der Erlösung der leidenden Menschheit vorgepredigt hatte, daß Natascha auf solch einen Menschen…
    Maman Angèle trat ins Zimmer. Sie hatte eine graue Ärmelschürze umgebunden und trug einen Besen und eine Kehrichtschaufel. Beides ließ sie an der Tür fallen, kam mit schnellen Schritten auf Jakob zu, erkundigte sich besorgt, ob er krank sei, setzte sich neben ihn, streichelte ihn. Jakob fühlte sich geborgen. Dann breitete sie eine Decke über den Liegenden und begann das Zimmer zu kehren. Als sie mit dem Besen unter dem Heizkörper am Fenster durchfuhr, zog sie ein kleines Blättchen mit hervor, das in der Mitte des Zimmers liegen blieb. Jakob sah von weitem, daß es beschrieben war, und die Schrift war ihm unbekannt. Aus Neugierde und um sich zu zerstreuen stand er auf, hob das Papier auf, legte sich wieder hin und begann es zu entziffern. Die Schrift war schwer zu lesen. Endlich hatte er den Sinn erfaßt, er fühlte, wie seine Hände kalt wurden. Dann steckte er das Papier in die Brusttasche und dachte nach.
    Dort, am Fenster, gerade neben dem Heizkörper, war Dr. Thévenoz gestern hingefallen. Das Blatt mußte von ihm stammen. Er zog es hervor und las es noch einmal:
»24. Juni: Tod Crawl. Anwesend: Bose, Schwester Annette, Wla.
    26. Juni: Tod Elt. Anwesend: Schwester Ann., Wla.
    Keine akute Tropeinvergiftung. Tod andere Ursache.«
    Dann, nach einem Zwischenraum, standen folgende Worte, eilig gekritzelt:
»Wer hat eine Sammlung hölzerner Masken? Wla.?«
    Jakob lag ganz still. »Wla.«, flüsterte er. Und dann klang in seinen Ohren deutlich die Stimme des Sterbenden. Was hatte der Sterbende Thévenoz gemurmelt? »Vala…« Bedeutete »Vala…« etwas anderes als »Voilà«, gewiß die nächstliegende Erklärung? Was hatte sein Bruder Wladimir mit der ganzen Sache zu tun? Jakob schloß die Augen. Er fühlte sich verlassen, er sehnte sich nach Natascha, dachte: ›Mag sie doch mit ihrem Maharaja gehen, aber sie soll mir helfen. Sie hat Erfahrung. Ich bin noch klein und dumm. Ich habe nie eine Mutter gehabt!‹ Und dann begann Jakob so heftig zu schluchzen, daß Maman Angèle den Besen fallen ließ und erschreckt zu dem Weinenden eilte.
    »Eine Sammlung hölzerner Masken…«, schluchzte Jakob, und Maman Angèle verstand nicht, was daran so traurig war.
    »Du bist gut, Maman Angèle«, schluchzte Jakob nach einer Weile weiter. »Aber warum sind die Frauen so falsch?«
    »Ach, Gott, mein Kleiner«, sagte Maman Angèle, »fängst du auch schon an? Liebeskummer? Das vergeht wieder. Mein seliger Mann war gerade so dumm wie du. Nimm's nicht ernst, nimm's nicht ernst!«
    Kommissar Pillevuit stieg aus dem Auto. Er atmete tief. Die Luft flimmerte schon über den gemähten Feldern, der Salève lag dort, breit, rund, ruhig wie immer. Pillevuit warf seinen Hut in den Wagen, zog

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