Der Tee der drei alten Damen
lieber sagen, zieht ein Schießeisen aus der Tasche, mit Schalldämpfer natürlich (man muß modern sein!): »Wenn du brüllst, schieß ich dich nieder. Du kennst mich doch. Du weißt, daß es mir Ernst ist. Erinnerst du dich noch der Prügel, die ich dir bei Eltester verabfolgt habe?«
Der Junge wird bleich, sein Gesicht drückt Haß aus. Dann sagt er leise:
»Die Mappe hab ich im Jardin Anglais gefunden. Ein Journalist hat mir zuvorkommen wollen, aber ich war schneller.«
»Aha«, sagt Baranoff, der stolz ist, O'Key aus dem Felde geschlagen zu haben. Er öffnet die Mappe, zieht die Papiere heraus. Alles bekannte Sachen. Halt, da ist ein gelbes Kuvert. Ein Vertragsentwurf mit der Sowjetdelegation über die Petroleumquellen. So froh ist Agent 72 über die Entdeckung dieses Dokumentes, daß er während des Lesens seine Lieblings-Melodienfolge pfeift: Wolgaschlepper – Valentine – Internationale. »Das kenn ich ja gar nicht, höchst wichtig, das muß versorgt werden. Aber vorerst, damit du dich von deinem Schrecken erholst und weil dir Kognak doch nicht schmeckt, hier…« Baranoff stellt eine Flasche Anisette auf den Tisch, füllt zwei Gläser. »Trink nur!« sagt er gnädig. »Ich will schnell das Dokument versorgen.« Er zieht unter seinem Bett eine Stahlkassette hervor, zieht aus der Hosentasche einen Schlüsselbund, der mit einer stählernen Kette am Hosenträger befestigt ist, schließt auf, versorgt das Kuvert. Dann dreht er sich um. Der Junge steht noch immer vor seinem vollen Glas. »Trink doch«, ermuntert Baranoff. Er stößt mit dem Jungen an, leert das Glas auf einen Zug. ›Merkwürdig‹, denkt er, ›wie stark diese Flasche nach Anis schmeckt. Aber gut ist es. Ich werde den Lieferanten fragen, ob er noch mehr derartige Flaschen auf Lager hat.‹ Ein bitterer Nachgeschmack, der nicht unangenehm ist, bleibt auf seiner Zunge, an seinem Gaumen haften. Dann setzt sich Baranoff in den Lehnstuhl und beginnt den Jungen auszufragen. Was die Mutter treibe. Ob Sir Bose, der Landespfleger, nicht auch die Mappe begehrt habe? Der Junge mault nur, seine Antworten sind wirklich nicht zu verstehen, dunkel kommt es Baranoff vor, als warte der Junge auf etwas. Worauf? Die Augen werden so schwer. Es ist viel Staub zwischen den Lidern und den Augäpfeln. Baranoff blinzelt. Er blinzelt stärker. Das Letzte, an das er sich erinnert, sind die farblosen Augen des Jungen, die lauernd auf ihn gerichtet sind. ›Albinoaugen‹, denkt Baranoff noch und sagt mit teigiger Zunge: »Die Mappe kannst du wieder mitnehmen.«
Diese Erinnerungen, nicht ganz so logisch geordnet, zogen durch Baranoffs Kopf, während er den Zimmerschlüssel suchte. »Ich find den Zimmerschlüssel nicht«, schrie er erbost. »Ich bin eingeschlossen. Holen Sie den Passepartout vom Wirt.«
Draußen entstand Geflüster.
»Gut!« hörte er wieder die Stimme. Dann Trappen. Baranoff ging im Zimmer auf und ab. Er roch an dem einen Glas, das noch auf dem Tisch stand. Der Anisgeruch war verteufelt stark. Er kostete den Tropfen, der noch auf dem Grund des Glases war.
»Somnifen! Natürlich! Was war ich doch für ein Schafskopf.« Darauf fluchte er auf Russisch, es klang wie ›Yoptoyoumatj‹, dann zog Agent 72 umständlich seinen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete seine Kassette: Das gelbe Kuvert, das er hineingelegt hatte, war verschwunden. Als er aber aufs Bett blickte, sah er, recht sichtbar auf das glatte Kopfkissen hingelegt – die Mappe.
Towarisch Baranoff war ein Philosoph. Er zuckte die Achseln. Verstecken hatte keinen Sinn. Übrigens klapperte schon ein Schlüssel im Schloß, die Tür ging auf, und mit wehendem Fahnenbart überschritt Pillevuit die Schwelle. Er sah sogleich die Mappe auf dem Bett, stürzte sich auf sie, blätterte die Dokumente durch, die sie enthielt.
»Im Namen des Gesetzes…«, sagte Kommissar Pillevuit.
»Machen Sie keine Geschichten!« unterbrach ihn Baranoff. »Ich weiß, wenn ich ein Spiel verloren habe. Ich komme schon mit.«
Die Zelle im Stadtgefängnis St. Antoine war hoch. Auch das Fenster war so hoch angebracht, daß man nicht ins Freie sehen konnte. Wie spät war es? Man hatte ihm seine Uhr genommen. So wartete Baranoff geduldig, bis die Kathedrale von St. Pierre die Stunde schlug. Zuerst fühlte sich das öde Glockenspiel verpflichtet, eine Melodie zu wimmern. Dann gab es vier tiefe Schläge. Zu früh, um nach dem Wärter zu klingeln. Baranoff wartete, er saß halb, halb lag er auf seiner Pritsche. Es war
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