Der Tempel der vier Winde - 8
kurz vor der Dämmerung, stand Richard vor seinem Schlafgemach und las den morgendlichen Bericht. Zum ersten Mal war die Zahl der Toten in einer Nacht über eintausend geklettert. Eintausend Tragödien in einer einzigen Nacht.
Ulic stand, die massigen Arme verschränkt, nicht weit entfernt und erkundigte sich nach der Zahl. Ein seltenes Ereignis, daß Ulic eine Frage stellte. Richard brachte kein Wort heraus. Er reichte seinem Leibwächter den Bericht. Dem Mann entfuhr ein tiefer Seufzer, als er die Zahl las.
Die Stadt war ein Trümmerhaufen. Der Handel war zusammengebrochen, die Lebensmittel wurden knapp. Feuerholz, sowohl zum Heizen als auch zum Kochen, war kaum mehr zu bekommen. Es war schwierig, irgendwelche Unterstützung zu erhalten, entweder, weil die Menschen Angst hatten, ihre Waren in die Stadt zu transportieren, weil sie ihre Häuser verlassen hatten und aus der Stadt geflohen waren oder weil sie tot waren.
Nur Heilmittel gab es in den Straßen noch im Überfluß.
Richard blieb auf seinem Weg ins Arbeitszimmer neben einem langen Wandbehang mit einer städtischen Marktszene stehen. Sein Schatten kam neben ihm zum Stehen. Die Vorstellung, weiter das Buch zu übersetzen, erzeugte bei ihm ein Gefühl von Übelkeit. Er würde ohnehin nichts Neues herausfinden. Er steckte in einem langweiligen Bericht über eine Untersuchung der Geschäfte fest, die Zauberer Ricker mit einem Volk, das man Andolier nannte, betrieben hatte. Der Bericht war langatmig und ergab wenig Sinn für ihn.
So früh am Tag fand Richard die Vorstellung, an dem Buch zu arbeiten, unerträglich. Außerdem war ihm schlecht vor Sorge um Raina. Ihr Zustand hatte sich im Lauf der vergangenen Woche ständig verschlechtert. Man konnte nichts für sie tun, jedenfalls nicht mehr als für die eintausend Menschen, die es während der vergangenen Nacht dahingerafft hatte.
Shota hatte Kahlan erzählt, der Tempel der Winde werde eine weitere Botschaft schicken, werde verraten, wie man in ihn hineingelangte. Die Seelen hatten ihr dasselbe gesagt. Wieso war sie nicht eingetroffen? Würden sie etwa alle tot sein, bevor die Winde Nachricht gaben?
Richard blickte aus dem Ostfenster und sah, wie die ersten Strahlen der Morgensonne zwischen den Bergen hervorbrachen. Wegen der zunehmenden Bewölkung, die, wie er bemerkt hatte, von Westen her aufzog, wußte er, daß sie den Vollmond in dieser Nacht nicht zu sehen bekommen würden.
Er begab sich zu Kahlans Gemach. Er brauchte etwas, das ihn aufmunterte. Ulic bezog an der Flurecke neben Egan Posten. Egan hatte in der vergangenen Nacht vor Kahlans Zimmer Wache geschoben.
Richard wurde von Nancy begrüßt, die gerade aus der Tür herauskam.
»Ist Kahlan auf?«
Nancy zog die Tür hinter sich zu. Sie blickte den Flur entlang und sah Ulic und Egan. Die beiden waren zu weit entfernt, um etwas mitzubekommen.
»Ja, Lord Rahl. Sie ist heute morgen nur ein wenig langsam. Sie fühlt sich nicht gut.«
Richard packte die Frau am Arm. Er fand, Kahlan wirkte seit ein paar Tagen so, als ginge es ihr nicht gut, doch sie hatte seine Besorgnis hartnäckig zerstreut. Richard spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
»Was ist mir ihr? Ist sie … krank? Sie hat doch nicht –?«
»Nein, nein«, wiederholte Nancy beharrlich, als sie plötzlich merkte, daß sie ihm einen Todesschrecken eingejagt hatte. »Nichts dergleichen.«
»Was ist es dann?« drängte Richard.
Die Frau tätschelte ihren Unterleib und beugte sich näher vor. Sie senkte die Stimme zu wenig mehr als einem Flüstern. »Es ist nur ihr Mondzyklus, das ist alles. Noch ein paar Tage, dann ist es vorbei. Ich würde es nicht erwähnen, aber angesichts der Pest wollte ich nicht, daß Ihr Euch zu Tode sorgt. Erzählt Ihr nur nicht, daß ich es Euch verraten habe, sonst reißt sie mir den Kopf ab.«
Richard seufzte und lächelte erleichtert. Dankbar drückte er Nancys Hand.
»Natürlich nicht. Danke, Nancy Ihr wißt gar nicht, wie mich das beruhigt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie…«
Nancy berührte ihn am Arm und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Ich weiß. Sonst hätte ich auch nichts gesagt.«
Nachdem Nancy den Gang hinunter verschwunden war, klopfte Richard an die Tür. Kahlan hatte sie gerade öffnen wollen und war überrascht, ihn vor sich zu sehen.
Sie blickte ihn lächelnd an. »Ich habe mich getäuscht.«
»Wieso?«
»Du siehst noch besser aus als in meiner Erinnerung.«
Richard schmunzelte. Schon hatte sie ihn aufgemuntert.
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