Der Tempelmord
eröffnet. Es war der sechste Thargelion, der Geburtstag der Artemis, der heute in Ephesos gefeiert wurde, das bedeutendste Fest des Jahres. Ein Tag, an dem auch Dutzende von Hochzeiten begangen wurden, denn es hieß, daß jede Frau, die heute ihren Liebsten empfing, fruchtbar sein würde.
Philippos lächelte versonnen. Vielleicht würde auch er heute abend Glück haben, wenn sich die Dämmerung herabsenkte und das ausgelassene Treiben in den Straßen der Stadt seinen Höhepunkt erreichte.
Hinter den Kureten folgte der schwergewichtige Megabyzos, der Vorsteher des Tempels. Er trug ein langes, weißes Gewand, dessen Saum fast bis auf den Boden reichte. Obwohl er mehr als zehn Schritt entfernt vorbeiging, konnte Philippos ihm doch ansehen, wie erschöpft er war. Fast schien es, als halte er sich an der Kette aus dicken Bernsteinperlen fest, die er um seinen Hals geschlungen hatte, und kaum konnte er seinen mit einer hohen Tiara geschmückten Kopf aufrecht halten. Doch statt weiter über den Zustand des dicken Megabyzos nachzugrübeln, den die Prozession offenbar an die Grenzen seiner Kraft geführt hatte, musterte der Arzt jetzt lieber die Jungfrauen des Artemisions, die dem Tempelvorsteher folgten. Ein leiser Seufzer entfuhr Philippos. Es war, als hätten Nymphen und Nereiden sich zu einem Festzug vereint. Die Priesterinnen trugen allesamt kurze, strahlend weiße Gewänder, die ähnlich wie der Chiton ihrer Herrin geschnitten waren. Ja, sie schienen wahrhaft Abbilder der Artemis zu sein, der ebenso schönen wie unnahbaren Göttin der Geburt und der Jagd. Kaum verhüllte der dünne Stoff ihre schlanken, jugendlichen Körper. Manche der Priesterinnen trugen Bronzehelme mit schwarzen Pferdeschweifen und zeigten, begleitet von Flötenspiel, ausgelassene Waffentänze, eine Anspielung auf das kriegerische Volk der Amazonen, das einst in Ephesos den ersten Tempel der Göttin errichtete.
Was könnte schöner sein, als eines dieser wunderbaren Geschöpfe in den Künsten der Aphrodite zu unterweisen, dachte Philippos. Hirngespinste! Nervös leckte sich der Grieche über die trockenen Lippen. Die Priesterinnen der Artemis waren den Ephesern genauso heilig wie den Römern die Vestalinnen. Wer ihnen auf unkeusche Weise nahe kam, der hatte sein Leben verwirkt. Womöglich würde sogar die Göttin selbst den Frevel strafen und einen ihrer todbringenden Pfeile vom Himmel hinabschießen. Ja, vielleicht empfand sie sogar seine Gedanken schon als Beleidigung. Artemis galt als sehr launisch ... Philippos blickte zum strahlend blauen Himmel. Nicht eine Wolke zeigte sich, und es gab auch sonst keine beunruhigenden Zeichen.
Erleichtert wandte der Grieche sich wieder dem Festzug zu.
Was verschwendete er seine Gedanken an die unerreichbaren Priesterinnen! Es gab auch genug hübsche Flötenspielerinnen und Tänzerinnen in der Stadt. Mit dem Gold, das er von Ptolemaios für seine Dienste erhielt, könnte er sich jedes Vergnügen kaufen! Allein ein Monat als Leibarzt des Königs brachte ihm mehr ein als ein ganzes Jahr in der Legion. Wenn er sich noch ein paar Jahre bei Hof halten konnte, dann hätte er ein Vermögen verdient und könnte als reicher Mann nach Athen zurückkehren.
Wie aus einem Munde erhob sich ringsherum Jubelgeschrei, und hundertfach wurde der Name der Göttin gepriesen. Das hölzerne Podest, auf dem die heilige Statue der Artemis getragen wurde, war in Sicht gekommen. Es war mit Blumen und Früchten geschmückt; kleine Tonfiguren, die Tiere zeigten, standen zu Füßen der Göttin, und sogar ein Schiff mit silbernen Segeln war ihr als Weihgabe dargebracht worden. Das menschengroße Holzbild, das zahllose Generationen von Priesterinnen mit heiligen Ölen gesalbt hatten, war über die Jahrhunderte schwarz wie die Nacht geworden. Die Epheser behaupteten, das Götterbild aus Rebenholz sei vor Äonen aus dem Himmel gestürzt, und es sei älter als ihre Stadt. Schon zu
Zeiten des Königs Kroisos hatte es keinen Menschen mehr gegeben, der zu sagen wußte, wie alt die Statue sei. Das Gesicht der Artemisstatue wirkte kalt und abweisend, doch hielt die Göttin ihre Arme wie zum Willkommensgruß geöffnet. Vor dem von zwölf Männern getragenen Podest schritten die Chosmophoroi und die Speirophoroi, Priesterinnen, die den Schmuck und die Gewänder der Göttin trugen. Nur einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, zeigte der Tempel das nackte, hölzerne Bild der Göttin. Ansonsten war Artemis in kostbare Gewänder aus parthischer Seide
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