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Den Tod im Blick- Numbers 1

Den Tod im Blick- Numbers 1

Titel: Den Tod im Blick- Numbers 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Ward
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KAPITEL 01
    Es gibt bestimmte Orte, wo wir uns rumtreiben. Traurige Jugendliche, schäbige Jugendliche, gelangweilte Jugendliche, einsame Jugendliche; Jugendliche, die anders sind. Wenn du weißt, wo du suchen musst, kannst du uns dort an jedem Tag der Woche finden: auf der Rückseite von Geschäften, in irgendwelchen Hintergassen, unter Brücken an Kanälen und Flüssen, in der Nähe von Tankstellen, in Bretterschuppen und Schrebergärten. Es gibt Tausende von uns. Das heißt, wenn du uns finden willst – die meisten Menschen wollen das ja gar nicht. Wenn die uns sehen, schauen sie weg, tun so, als ob wir nicht da wären. Das ist leichter. Vergiss die ganze Scheiße von wegen, jeder bekommt seine Chance – wenn sie uns sehen, sind sie froh, dass wir nicht mit ihren Kindern auf dieselbe Schule gehen, den Unterricht stören und ihnen das Leben zur Hölle machen. Genau das denken auch die Lehrer. Glaubst du, die sind enttäuscht, wenn wir morgens nicht im Unterricht erscheinen? Einen größeren Gefallen können die mir doch gar nicht tun, sagen die Lehrer – sie wollen uns nicht in ihren Klassen haben und wir wollen auch gar nicht hin.
    Die meisten hängen in kleinen Gruppen zusammen, zu zweit oder dritt, und vertreiben sich die Zeit. Ich, ich bin lieber allein. Ich mag das, Orte zu finden, wo niemand ist – wo ich niemanden anschauen und seine Zahl sehen muss.
    Deshalb war ich sauer, als ich zu meinem Lieblingsplatz unten am Kanal kam und feststellen musste, dass da schon jemand war. Wenn es bloß irgendein Fremder gewesen wär, irgendein alter Penner oder Junkie, wär ich woanders hingegangen, kein Problem, aber leider war es einer aus Mr McNultys »Spezialklasse«: der ruhelose, schlaksige, großmäulige Typ, den alle Spinne nannten.
    Er lachte, als er mich sah, kam sofort auf mich zu und fuchtelte mir mit dem Finger vor dem Gesicht rum: »Schlimmes Mädchen! Was machst du denn hier?«
    Ich zuckte die Schultern und sah auf den Boden.
    Er redete weiter auf mich ein. »Konntest wohl den Nuller keinen Tag länger ertragen. Mach dir nichts draus, Jem – der ist ein Psycho. Der dürfte gar nicht frei rumlaufen, dieser Typ, stimmt’s?«
    Spinne ist groß, riesig. So einer, der dir zu dicht auf die Pelle rückt und nicht merkt, wann es besser ist, sich zurückzuziehen. Ich nehm an, deshalb ist er auch in der Schule ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt. Die ganze Zeit hängt er dir vorm Gesicht rum und du riechst ihn. Selbst wenn du dich wegduckst und umdrehst, ist er noch da – er versteht keine Andeutungen, nimmt keine Zeichen wahr. Die Kapuze schränkte meine Sicht ein, doch als er direkt vor mir auftauchte und ich instinktiv den Kopf von ihm wegdrehte, trafen sich einen Moment lang unsere Blicke und da war sie. Seine Zahl. 15122010. Das war der zweite Grund, warum ich mich in seiner Nähe unwohl fühlte. Arme Sau – damit hat er doch null Chancen.
    Jeder hat eine Zahl, ich glaub nur, dass ich die Einzige bin, die sie sieht. Na ja, richtig »sehen« kann ich sie eigentlich nicht; die Zahlen tauchen irgendwie in meinem Kopf auf. Ich fühl sie, irgendwo hinter den Augen. Doch sie sind wahr. Ist mir egal, ob du’s glaubst oder nicht – mach, was du willst, aber ich weiß, dass sie stimmen. Und ich weiß, was sie bedeuten. Der Groschen fiel, als meine Mutter starb.
    Die Zahlen hatte ich schon immer gesehen, solange ich mich erinnern kann. Ich hatte gedacht, jeder würde sie sehen. Wenn ich die Straße entlangging und jemandem in die Augen sah, tauchte sie plötzlich auf, seine Zahl. Ich plapperte die Zahlen vor mich hin, als meine Ma mich im Buggy durch die Gegend schob. Ich dachte, es würde ihr gefallen. Sie würde mich für klug halten. Ja, echt.
    Wir waren also auf der High Street unterwegs zum Sozialamt, um die wöchentliche Stütze abzuholen. Donnerstag war gewöhnlich ein guter Tag. Bald würde sie in dem verbarrikadierten Haus bei uns in der Straße einkaufen und dann für ein paar Stunden glücklich sein. Sämtliche verkrampften Muskeln in ihrem Körper würden sich entspannen, sie würde mit mir reden, mir vielleicht sogar vorlesen. Ich rief also, während wir die Straße entlangliefen, fröhlich die Zahlen der Leute aus. »Zwei, eins, null, vier, zwei, null, eins, neun! Null, sieben, null, zwei, zwei, null, vier, sechs!«
    Plötzlich hielt sie den Buggy abrupt an und schwang ihn herum in ihre Richtung. Sie ging in die Hocke, hielt beide Seiten des Rahmens mit ihren Händen

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