Der Tempelmord
ihn mir morgen noch einmal bei besserem Licht anschauen. Vielleicht gibt es ja etwas, das wir übersehen haben.«
Philippos nickte heftig. Er war ganz offensichtlich erleichtert, von dem Toten wegzukommen. Schweigend verließen die beiden den Stall. Womit nur konnte sich Buphagos den Zorn der Göttin zugezogen haben, fragte sich Samu. Soweit sie wußte, hatte der Mundschenk auch nicht seltener als andere Hofbeamte den Göttern geopfert. Überhaupt war er eine recht unscheinbare Gestalt gewesen. Es mochte schwerlich jemanden geben, dem Buphagos Anlaß gegeben haben könnte, über einen Mord nachzudenken, geschweige denn, ihn auszuführen.
Samu überlegte, ob vielleicht Berenike mit dem Tod des Mundschenks in Verbindung stand. Doch wenn sie über die Macht verfügte, auf so geheimnisvolle Weise töten zu lassen, würde sie sich dann für ihre Anschläge nicht lohnendere Opfer suchen? Der Tod des Pharaos zum Beispiel würde sie als älteste Tochter zur legitimen Thronfolgerin machen. Auch ihre Geschwister, die gemeinsam mit Ptolemaios aus Ägypten geflohen waren, wären attraktivere Ziele für einen Mordanschlag gewesen als ein bedeutungsloser Mundschenk. Der Mord an ihm konnte der Tyrannin keinen Vorteil bringen, und es machte folglich keinen Sinn, sie als Urheberin zu sehen. War es also doch Artemis, die Buphagos getötet hatte? Bei dem Gedanken an die zornige Göttin fröstelte es Samu.
Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Ptolemaios Samu und Philippos in einer kleinen Kammer neben seinem Schlafgemach empfing. Der Raum war schlicht eingerichtet. Es gab zwei Stühle und einen zierlichen Tisch. Der König lag auf einer breiten, mit Kissen und Decken aufgepolsterten Kline, die bei jeder Bewegung seines massigen Körpers bedenklich knirschte. Zwei flackernde Öllämpchen tauchten die Kammer in ein unstetes, gelbliches Licht, in dem die Wandbilder, die die Geschwister Artemis und Apollon auf der Jagd zeigten, seltsam lebendig erschienen.
Mit geübter Geste raffte Philippos den Saum seiner Toga, ließ sich auf die Knie nieder und beugte sich so weit vor, daß er mit der Stirn fast den Boden berührte. Noch vor einem Jahr hätte er jedem mit Prügel gedroht, der behauptet hätte, er würde einst vor einem orientalischen Tyrannen niederknien. Doch was tat man nicht alles für einen prall gefüllten Geldbeutel . Es war halt die übliche Art, wie man in Ägypten einen Gott begrüßte, denn nichts anderes war Ptolemaios nach dem Glauben des Nilvolkes. »Ich neige mein Haupt in Demut vor Euch, mein König und Gott.«
Einen Sterblichen Gott zu nennen, kostete Philippos immer noch Überwindung. Diese verrückten Orientalen! Wenn er eines Tages als reicher Mann nach Athen zurückkehrte, würden seine Freunde mit ihm in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn er ihnen erzählte, daß er einmal Leibarzt eines Gottes gewesen war. Der Grieche schmunzelte und blickte verstohlen zu Samu hinüber, die neben ihm niedergekniet war. Das Gesicht der Ägypterin zeigte keinerlei Regung, doch Philippos wußte nur zu gut, daß sie den Pharao seit den Ereignissen in Rom zutiefst verachtete. Sie würde sich zwar nie gegen ihren Gott erheben, doch vermied die Priesterin es nach Möglichkeit, dem König zu begegnen. Seit ihrer Rückkehr aus Italien widmete sie sich ganz der Erziehung von Prinzessin Kleopatra. So wie die Dinge im Moment standen, würden die Kleine und ihr jüngerer Bruder Ptolemaios XIII. verheiratet, sobald der König nach Ägypten zurückkehrte. Insgeheim hoffte Philippos, daß es nie so weit kommen würde. Es war schon übel genug, sich vor einem alten Fettsack zu demütigen.
Vor diesem jungen Weib würde er niemals auf den Knien herumrutschen!
»Erhebt euch«, schnaufte Ptolemaios müde. »Ich hoffe, ihr könnt uns erklären, was heute nachmittag mit Buphagos geschehen ist. Unsere Gastgeber sind, gelinde gesagt, befremdet über den Zwischenfall. Die Hohepriesterin und der Protokures, der Vorsteher der Kureten, wollen morgen den Leichnam des Mundschenks persönlich in Augenschein nehmen. Wir hoffen, daß dies nicht zu weiteren Verwicklungen führen wird! Unser gemeinsames Opfermahl heute abend war schon unerfreulich genug. Kaum jemand hat gesprochen, und selbst die Tänzer und Flötenspielerinnen schienen bedrückt. Jedermann scheint diesen dummen Zwischenfall als ein böses Omen aufzufassen .«
Philippos schluckte. Er verspürte nicht die geringste Lust, dem Neuen Dionysos das Ergebnis ihrer Leichenschau vorzutragen.
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