Der Teufel in Frankreich
eines gleichgültigen Sergeanten in rotem Fes, der mit grober Stimme kommandiert: »un, deux, un, deux«, und mit der Vorstellung von Männern in abgetragenen, zerlumpten Kleidern, die mit stumpfen, verstaubten Gesichtern einander Ziegel zuwerfen und die einstmals, vor gar nicht langer Zeit, gut angezogene Herren gewesen waren und eine ziemlich sinnvolle Tätigkeit ausgeübt hatten.
Pithom – Ramses – Pithom – Ramses.
Wenn ich von meinem New-Yorker Hotelfenster über den Central Park hinausschaue auf die Turmhäuser, die ihn rechts und links umgeben, und auf die riesige, lebendige, friedlich tätige Stadt, dann, häufig, frage ich mich, ob ich denn wirklich hier bin und wieso. Vor neun Jahren saß ich in meinem Haus in Berlin, im Grunewald, meine Bücher rings um mich, ein kleiner, friedlicher Kiefernwald stieg sanft von meinem Garten hinunter zu einem kleinen, friedlichen See, ich fühlte mich wohl, ich hatte keineswegs die Absicht, dieses Haus aufzugeben. Vor sechs Jahren saß ich in meinem weißen, stillen Haus in Sanary, in Südfrankreich, meine Bücher rings um mich, Olivenbäume stiegen hinunter zu dem sehr blauen Meer, ich fühlte mich wohl, ich hatte keineswegs die Absicht, dieses Haus aufzugeben.
Gewiß könnte ich hundert gescheite Gründe anführen, warum die Ereignisse vom Beginn des ersten Welt krieges an bis heute genau so verlaufen mußten, wie sie verliefen, und warum also auch ich, getrieben von diesen Ereignissen, genau das Schicksal erfahren mußte, das ich erfuhr. Ich könnte hundert wohlklingende Erklärungen zustande bringen, warum ich im Anfang des ersten Weltkrieges in einem französischen Gefängnis in Tunis interniert und warum ich später in eine deutsche Uniform gesteckt wurde, warum ich in die Wirbel der kurzen deutschen Revolution und der langen deutschen Gegenrevolution hineingeriet, warum ich beschloß, von nun an aber die Welt nur mehr von meinem Berliner Schreibtisch aus zu betrachten, warum ich dann gleichwohl nach Frankreich verschlagen wurde und warum ich schließlich den zweiten Krieg zu einem großen Teil in einem französischen Konzentrationslager mitmachen mußte. Gewiß, für das alles, für den besondren Verlauf dieser meiner eigenen kleinen Erlebnisse nicht minder als für den Ablauf der großen Begebenheiten, die sie bedingten, gibt es eine Reihe rationell zureichender Gründe. Kluge Leute können sie aufzählen, diese Gründe, wirtschaftliche, biologische, soziologische, psychologische, allgemein philosophische. Ich selber könnte ein Buch darüber schrei- ben und die Zusammenhänge mit scharfer Logik darlegen.
In meinem tiefsten Innern aber weiß ich, daß ich nicht das Geringste weiß von den Ursachen des barbarischen Wirrwarrs, in welchem wir alle uns drehen. Ich bin wie ein Mann aus dem Urwald, der ein System von Telegrafendrähten sieht, aber keine Ahnung hat, warum man das errichtet hat, wozu es gut sein soll und wie es funktioniert. Und ich weiß ferner, daß niemand auf der Welt, auch der bestinformierte Staatsmann nicht, das Warum, Wieso und Wozu dieses Krieges wissen kann. Und selbst wenn einmal alle Akten vorliegen, auch dann wird man höchstens ein wenig mehr wissen über die unmittelbaren Ursachen und Zusammen hänge einzelner Fakten, das Urteil aber über den Gesamtverlauf wird immer einzig und allein von der geistigen Beschaffenheit des Betrachters abhängen und nur über ihn etwas aussagen. Tausend kundige Geschichtsschreiber weisen mit geistreichen, zwingenden Gründen nach, warum das Römische Reich zugrunde ging, warum das Christentum die heidnische Welt ablöste, warum die Französische Revolution entstand, warum das alles so kommen mußte und gar nicht anders kommen konnte: nur sind die zwingenden Gründe jedes Geschichtsschreibers andere. »Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen«, hat ein gescheiter deutscher Professor gesagt, der dann von den Nazis erschlagen wurde.
Wenn ich also auf den folgenden Seiten berichte, was mir in Frankreich während des Krieges zugestoßen ist um die Wende von meinem sechsundfünfzigsten zu meinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr, dann werde ich gar nicht erst den Versuch machen, Ihnen, Leser, meine Meinung aufzudrängen über die letzten Gründe, warum gerade dieser Mensch, der Schriftsteller L. F., in gerade diese Situation geriet. Nennen Sie diese Gründe, wie Sie wollen: Zufall oder Notwendigkeit oder göttliche Vorsicht. Ich, Leser, werde Sie nicht behelligen mit meinen eigenen Ansichten über die
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