Der Teufel in Frankreich
dann an der andern. Es war ungewöhnlich, daß um diese Zeit Besucher kamen, die nicht gemeldet waren. »Wer ist da?« fragten wir. Es waren unsre Nachbarsleute, ein deutscher Maler und seine Frau. Wir sahen einander selten, wir mochten uns nicht besonders leiden, jetzt fanden wir es natürlich, daß sie kamen.
»Haben Sie es gehört?« fragte er. Wir besprachen die Nachrichten hin und her. Ein vernünftiger militärtechnischer Grund, uns hier unten im Süden einzusperren, lag wohl nicht vor. Daß wir Gegner des Naziregimes waren, war in wiederholten, scharfen Untersuchungen festgestellt worden. Aber hat man denn die in Paris deshalb eingesperrt, weil man sie für gefährlich hält? Vermutlich geht man doch nur deshalb gegen sie vor, weil man die Bevölkerung glauben machen will, es geschehe irgend etwas. Und wenn das der Grund ist, warum dann soll man es hier unten anders halten? Ein einziger kleiner Trost bleibt: bei der französischen Schlamperei wird es eine gute Weile dauern, ehe man eine entsprechende Verordnung auch hier unten erläßt.
Wie ich die nächsten Tage verbracht habe, kann ich genau nicht sagen. Ich habe Tagebuch geführt über jene Zeit in Frankreich, doch habe ich diese Aufzeichnungen nicht an der Hand und weiß nicht, ob ich sie je wieder erhalten werde.
Vielleicht ist es ein Vorteil, daß ich nun so ganz auf mein Gedächtnis angewiesen bin. Gewiß, das Gedächtnis fälscht. Mein Gedächtnis, wie wohl das Gedächtnis der meisten, weigert sich häufig, Dinge zu behalten, die ich gerne aufbewahren möchte, während es ungeheißen Dinge aufbewahrt, die mir gleichgültig sind. Es drängt Wichtiges zurück und Unwichtiges in den Vordergrund. Es handelt nach Gesetzen, die mein Bewußtsein nicht erklären kann, die aber sicherlich mit meinem innersten Wesen zu tun haben.
Ja, ich denke, diese Willkür des Gedächtnisses ist ein Vorteil für den Schriftsteller. Sie nötigt ihn zu jener unbedingten Ehrlichkeit, welche die Voraussetzung aller Dichtung ist, sie nötigt ihn, nur solche Visionen zu geben, die wirklich seine Visionen sind. Im besondern Fall zwingt mich der Verlust meines Tagebuchs, der Mangel an objektiven Notizen, nur von solchen Dingen zu erzählen, die mich innerlich angingen. Es wird so vielleicht manchmal objektiv Wesentliches fehlen, aber meine Darstellung wird subjektiv ehrlich sein, dichterisch wahr, nicht verzerrt von Akten, von minutiösen Daten der Realität. Ob ich will oder nicht, ich muß infolge des Verlustes meiner Aufzeichnungen ein Bild geben, nicht plumpe, fotografierte Wirklichkeit.
Bin ich sehr hochmütig, wenn ich gestehe, daß ich mich darüber freue? Bin ich sehr hochmütig, wenn ich mich grundsätzlich zu dem Glauben bekenne, daß ein fotografisch sachlicher Bericht nicht sehr viel beiträgt zur Erkenntnis dessen, was an einer Begebenheit wesentlich ist? Aber ich bin nun einmal der Meinung, daß sich eine Begebenheit ändert jeweils nach der Erlebniskraft des Erlebenden. Ja, ich bin steif und fest überzeugt, daß es bei der Wiedergabe eines Erlebnisses auf die Person des Erlebenden nicht weniger ankommt, sondern mehr als auf das Erlebte.
Die meisten Menschen sind nicht sehr erlebnisfähig. Sie sind zu tief beeinflußt von den Wertungen anderer. Sie glauben, sie müßten bestimmte Dinge als groß und wichtig, andere als klein und belanglos empfinden, weil »Kompetente« in ähnlichen Fällen so empfunden haben. Nicht nur das Verhalten, auch das Fühlen der meisten ist von der Konvention, von der Mode vorgeschrieben. Der Durchschnittsmensch kann Erlebnisse nicht anders katalogisieren als nach den paar üblichen Normen. Magazin, Radio, Film tragen das ihre dazu bei, diese wenigen Normen noch tiefer in die Hirne zu hämmern, und verengen dadurch die Fähigkeit eigenen, gesonderten Hörens, Sehens, Fühlens, Wertens noch mehr. Die Erlebnisfähigkeit des Durchschnittsmenschen ist gering, das Register seiner Empfindungen klein. Geschehnisse, auch wenn er mitten darin ist, fließen an ihm ab, dringen nicht in ihn ein, machen ihn nicht reicher. Wenn man in einen kleinen Becher noch soviel Flüssigkeit hineingießt, der Becher nimmt nur ein bestimmtes Maß auf.
Ein Mensch mit einiger Phantasie hat vor den andern das voraus, daß eine erwartete Wirklichkeit an Intensität fast immer zurückbleibt hinter seiner Erwartung. Das tatsächliche Erleben des Schlimmen bereitet ihm beinahe immer weniger Schmerz als die Angst davor, wie ihm freilich auch das Erleben des Glückes
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