Der Teufel von Mailand
Ruheraum. Alle Räume waren aus exakt gefügten Quadern aus poliertem Granit gebaut, still und ernst wie Grabkammern.
Hier unten würde sie also ihre Tage verbringen. Zusammen mit Frau Felix und Manuel, ihren beiden Kollegen.
Frau Felix war eine sehr kleine, untersetzte kräftige Frau mit kurzen schwarzen Haaren, Sonia schätzte sie auf etwas über sechzig. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens im Unterland verbracht, wo sie als Krankengymnastin arbeitete. Vor ein paar Jahren war sie an den Ort ihrer Jugend zurückgekehrt und hatte von Hausbesuchen als Physiotherapeutin gelebt. Sie hatte beim Abendessen nicht viel gesprochen, aber Sonia hatte sie immer wieder dabei ertappt, daß sie sie verstohlen beobachtete. Das Seltsamste an ihr war eine extravagante geschweifte Brille, die überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung paßte und deren dicke Gläser ihre Augen groß und verschwommen machten.
Manuel, der andere Physiotherapeut, war vor zwei Tagen angekommen. Sonia schätzte ihn auf Mitte Dreißig. Ein rundlicher mittelgroßer Mann mit einem Bart an Kinn und Oberlippe. Sein gewagter Stufenschnitt mit blondierten Strähnen im brünetten Haar wollte sich nicht so richtig ins Gesamtbild fügen. Wenn Manuel lachte, was er oft und laut tat, zeigte er die breite Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. Er gab sich keine Mühe, zu verbergen, daß er schwul war. Sonia würde sich an ihn halten.
Aus dem Bad klang das metallische Geräusch, das entstand, wenn Pavarotti sich mit Schnabel und Füßen die Gitterstäbe hochhangelte. Das mußte es gewesen sein, was sie geweckt hatte. Auch der Vogel konnte nicht schlafen am neuen Ort.
Normalerweise hätte sie längst ein Rohypnol genommen. Aber sie hatte das fast volle Schächtelchen heute morgen, kurz bevor sie Malu die Wohnung übergeben hatte, in den letzten Müllsack geworfen und diesen eigenhändig zum Container gebracht. Sie war sicher gewesen, daß die Bahnfahrt wie der Gang durch eine Desinfektionsschleuse wirken und sie alles, was sie belastete, hinter sich lassen würde.
Sie drehte sich mit dem Gesicht zur senkrechten Wand und versuchte, die Dachschräge aus dem Bewußtsein zu drängen. Aber je stärker sie sich darauf konzentrierte, desto mehr zog es sie hinunter. Das Zimmer begann wegzukippen. Bald würden die Möbel zu rutschen beginnen.
Sonia knipste die Nachttischlampe an. Sofort nahmen das Zimmer und die Gegenstände wieder ihre beruhigende Banalität an. Sie stand auf und begann die schwere Waschkommode mit der hellgrauen Marmorplatte zu schieben. Stück für Stück, um möglichst wenig Lärm zu machen, bis das Möbel an der Längsseite des Bettes stand.
Sie kroch wieder unter die Decke, löschte das Licht und schloß die Augen. Sie spürte die Kommode hinter sich, schwer und unverrückbar. Sie zwang sich, tief und regelmäßig zu atmen. Ein Trick, den sie aus ihrer Ehe kannte. So tun, als schlafe man, bis man einschläft.
Noch einmal schreckte sie in dieser Nacht ein Geräusch aus dem Schlaf. Diesmal war es karmesinrot und fast durchsichtig an den Rändern.
Als Sonia am nächsten Morgen die Vorhänge öffnete, waren die Nebelschleier noch etwas näher gerückt. Es mußte erst vor kurzer Zeit zu regnen aufgehört haben, denn von der Birke tropfte noch unregelmäßig das Wasser. Sie hatte kaum geschlafen, und als sie in den Spiegel schaute, fand sie, man sehe es ihr an.
Sie nahm das Tuch von Pavarottis Käfig. Auch er sah etwas zerknittert aus. »Schau mich nicht so an, ich hab es mir auch anders vorgestellt«, sagte sie. Sie zog Badeanzug und Bademantel an und verließ ihr Zimmer.
Sobald die Glastür beiseite glitt, war das Rauschen der Wasserfälle zu hören. Es roch warm nach Wasserdampf und Chlor. Das Thermalbad war leer, aber aus dem Sportbad tauchte ein Kopf in einer enganliegenden zitronengelben Badekappe auf und wieder unter, auf und unter.
An einem der verchromten Haken neben den gläsernen Duschkabinen hing ein Bademantel. Sonia hängte ihren daneben und duschte. Als sie herauskam, kletterte gerade Barbara Peters aus dem Pool, zerrte sich die Badekappe mit geübtem Griff vom Kopf und schüttelte ihr Haar. »Gut geschlafen?«
»Es geht.«
»Die Luftveränderung. Ich brauche drei Tage.«
Barbara Peters sah aus wie eine siegessichere Miss-Kandidatin nach der Badeanzug-Runde. Sie lächelte unbekümmert: »An Ihrer Stelle würde ich es heute ruhig angehen lassen. Ein wenig die Umgebung kennenlernen, mit dem Vogel spazierengehen, dampfbaden, schlafen,
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