Der Teufel von Mailand
Mamans selbstgebackenem unvergleichlichem Marmorkuchen.
Die erste Aufweichung der Tradition erreichte Sonia dadurch, daß sie darauf bestand, Silvester unten zu feiern. Mit oder ohne Frédéric, wie sie ihm drohte. Der gab schließlich nach und rächte sich mit einer fast wortlosen Silvesterparty und einem halbstündigen Telefongespräch um Mitternacht mit seiner Mutter. Danach brachte sie jedes Jahr ein paar weitere Forster-Traditionen zu Fall. Und schließlich auch die letzte, die darin bestand, daß sich ein Forster unter gar keinen Umständen scheiden läßt.
Damals in St. Moritz hatte sie nie Einheimische getroffen. Oder wenn, dann hatte sie sie nicht als solche erkannt. Sie waren gleich gekleidet wie die Feriengäste und fuhren die gleichen Luxusgeländewagen. Aber hier waren alle einheimisch. Sie grüßten sie mit falscher Herzlichkeit oder taten, als sähen sie sie nicht, um sie danach verstohlen zu observieren.
Das Dorfbild von Val Grisch wurde beherrscht von alten Engadinerhäusern, deren tief in die dicken Mauern eingelassene Fenster mit geometrischen Sgraffiti eingefaßt waren und auf deren Simsen die Geranien und Petunien prangten. Als wollte man den Ort für den Tourismus nicht allzu attraktiv machen, hatte man der Idylle jedoch während der letzten fünfzig Jahre immer wieder ein paar architektonische Scheußlichkeiten verpaßt. Hier ein Gemeindehaus, da ein Feuerwehrdepot, dort ein dem örtlichen Baustil nachempfundenes Apartmenthaus.
Sonia betrat den Steinbock, das Restaurant, das ihr Barbara Peters empfohlen hatte. Es befand sich am Dorfplatz, wenn man die Verbreiterung der Hauptstraße so nennen konnte, gegenüber der Kirche und neben dem geranienbeladenen Dorfbrunnen. Auf einem weiß-gelben Leuchtschild stand groß »Calanda Bräu« und klein darunter »Steinbock«. Das Lokal sah genau so aus, wie sie es erwartet hatte. Holztische mit Bänken, Hockern und schmiedeeisernen Leuchtern unter den glasigen Blicken von Gemsen, Rehen, Hirschen und Steinböcken.
Am Stammtisch verstummten ein paar Kartenspieler. Ein junges Mädchen mit knapper Hüftjeans und gepierctem Bauchnabel kam hinter dem Tresen hervor und sagte: »Wo Sie wollen.«
Sonia setzte sich an einen Fenstertisch und bestellte einen Tee.
»Was für einen?« fragte das Mädchen.
»Schwarz.«
Sie ging hinter den Tresen und kam mit einer Karte zurück. »Die Teekarte.« Tatsächlich, der Steinbock besaß eine Teekarte mit vier Seiten Tees, von Assam über Oolong bis zu Gunpowder und von Himbeerblättern über Ingwer bis zu Roiboos. Sonia bestellte einen Orangenblütentee und bekam ein Kännchen mit einem Porzellaneinsatz voller duftender Orangenblüten.
Auch die Speisekarte überraschte sie. Neben den üblichen Standardmenüs wie Bündnerteller, Käseschnitte, Salsiz und Gerstensuppe gab es da Pizokel mit Thai-Basilikum, Capuns mit Hummerfüllung und Hirschcurry. Sonia nahm sich vor, hier zu essen, sobald sie jemanden gefunden hatte, der sie begleitete. Sie aß nicht gerne allein in Restaurants.
Die Kartenspieler waren nur kurz verstummt. Jetzt machten sie sich wieder bemerkbar. Sie begleiteten ihre Stiche mit Triumphschreien und ihre Verluste mit Flüchen und spielten sich auf wie Schulbuben, die den Mädchen imponieren wollten.
Als Sonia nach der Bedienung rief, stand einer von ihnen auf und kam an ihren Tisch. Ein dicker Mann mit graumeliertem Bart und wasserblauen, von schweren Lidern und braunen Tränensäcken umrahmten Augen. »Ja?«
»Ich wollte zahlen.«
»Das können Sie auch bei mir.«
Sonia bezahlte ihren Tee. »Vielversprechende Karte«, bemerkte sie, um das Eis zu brechen. »Sind Sie der Koch?«
»Der Wirt.« Mehr sagte er nicht.
Sonia gab nicht auf. Schließlich würde sie die nächsten Monate hier oben verbringen. »Ich arbeite im Gamander.«
»So, so. Im Gamander.« Er angelte eine Handvoll Münzen aus der Hosentasche und zählte Sonias Wechselgeld auf den Tisch. »Im Gamander, so, so«, murmelte er noch einmal, bevor er zu seinen Karten zurückkehrte.
Der Regen hatte etwas nachgelassen. Er fiel nicht mehr in dünnen Schnüren, er zerstäubte sich in der kühlen Bergluft. Statt zurück zum Hotel ging Sonia weiter durchs Dorf bis zu einem gelben Wegweiser mit der Aufschrift »Alp Petsch, 2 Std.«. Diese Richtung schlug sie ein.
Am Anfang war das Sträßchen noch geteert. Es führte an ein paar Bauernhäusern vorbei, deren Ställe und Scheunen zu Garagen und Wohnräumen ausgebaut waren. An einigen hingen
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