Der Teufel von Mailand
Schilder. »Ferienwohnung zu vermieten« oder: »abitaziun da vacanzas!«. Nur bei ganz wenigen stand ein Misthaufen vor der Tür und drang das Stampfen und Schnauben des Viehs durch die offenen Stallfenster.
Sonia ging schnell und war schon bald außer Atem. Zu ihrem neuen Leben gehörte auch, daß sie ihre verlorene Kondition zurückgewinnen wollte. Als sie noch als Physiotherapeutin arbeitete, hatte es zum Beruf gehört, in Form zu sein. Und später, als Frédéric sie überredet hatte, den Beruf aufzugeben, da war sie fit aus Langeweile. Sie trainierte regelmäßig in einem Club, nur, weil sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen wußte. Und als ihr auch das zu langweilig wurde, begann sie mit Yoga. Dabei hatte sie auch Peter kennengelernt, ihren ersten Seitensprung. Als sie mit ihm Schluß machte, war es auch vorbei gewesen mit dem Yoga. Von da an war ihr Leben immer weniger langweilig geworden. Und immer weniger gesund.
Das Sträßchen wurde nun zu einem Feldweg mit einer bewachsenen Mitte. In den Fahrrinnen hatten sich Pfützen gebildet, denen sie immer wieder ausweichen mußte. Bald waren ihre schwarzen Hogan durchnäßt. Sie besaß keine Schuhe, die sich für dieses Terrain eigneten, sie würde wohl nicht darum herumkommen, im einzigen Sportgeschäft des Dorfes ein Paar Wanderschuhe zu kaufen.
Den Schirm hatte sie zugemacht und benutzte ihn als Wanderstock. Der feine Regen ließ ihr Haar in glänzenden Strähnen an Stirn und Wangen kleben. Noch nie hatte sie sich so gut gefühlt seit ihrer Ankunft in Val Grisch.
Der befahrbare Weg endete in einem kleinen stillgelegten Steinbruch, der jetzt als Wende- und Parkplatz diente. Hier begann ein Pfad, der gerade so breit war, daß zwei Personen aneinander vorbeikamen. Er führte ein Stück weit über eine Weide und stieg langsam an.
Am Horizont verdichtete sich der Nebel zu einer dunklen Wand. Beim Näherkommen lösten sich daraus die Umrisse von Bäumen. Sie betrat einen lichten Föhrenwald und blieb stehen. Lautlos fiel der feine Sprühregen. Keine Vogelstimme, kein Knacken, kein Rascheln. Aus dem Teppich aus Gras, Moos, Flechten und niedrigen Sträuchern ragten die grauen nassen Stämme und verloren sich in der Unschärfe der tiefhängenden Nebeldecke. Es roch nach nassem Moos und schwammigem Holz.
Sonia ging weiter. Der Weg stieg in engen Kurven steil an. Sie rannte, rutschte und stolperte ihn hinauf, als böte sich genau jetzt die einmalige Gelegenheit, sich selbst weit hinter sich zurückzulassen, wenn sie nur schnell genug ging.
Außer Atem erreichte sie das Ende der Steigung. Der Weg beschrieb eine weite Kurve und führte sie an den Waldrand. Dort stand eine Bank aus zwei halbierten Baumstämmen mit der eingebrannten Aufschrift »Società da trafic Val Grisch«. Sie setzte sich keuchend, ohne zuvor die Tropfen von der Sitzfläche zu wischen.
Vor ihr lag eine Weide, die in einer sanften Neigung unter dem Nebelvorhang verschwand. Bei gutem Wetter hatte man von hier bestimmt eine herrliche Aussicht auf das Tal und die gegenüberliegende Bergkette.
Langsam kam Sonia wieder zu Atem. Und plötzlich bemerkte sie die Veränderung.
Das Gras, eben noch verschwommen grün, leuchtete wie junger Spinat. Die farblosen Tupfen und Flecken, die es sprenkelten, hatten sich in himmelblauen Wiesensalbei, schneeweiße Margeriten und zartrosa Wiesenknöterich verwandelt. Durch einen Riß im Nebeltuch waren ein paar Sonnenstrahlen gedrungen und ließen die nassen Gräser und Blumen aufglitzern wie die Auslage eines Juweliers.
Und dann sah Sonia den Regenbogen. In der Ungewißheit des Nebels entstand er in vagen Tönen, verdichtete sich zu einem stolzen Halbbogen in den vollen Farben des Spektrums und zerfiel hoch oben im Grau des Regennachmittags.
Sein Violett fühlte sich an wie der Pelz eines Weidenkätzchens, sein Blau wie das Gewinde einer Schraube, sein Grün wie ein polierter Kieselstein, sein Gelb wie ein kantiges Stück Schaumgummi, sein Rot wie die Innenseite ihrer Backe, wenn sie sie mit der Zunge berührte.
Aber das Seltsamste an diesem Regenbogen: An seinem äußersten Rand neben dem rötesten Rot, dort, wo sonst das Spektrum aufhörte, befand sich noch etwas. Ein Streifen einer Farbe, die sie noch nie gesehen hatte und für die sie keinen Namen fand. Er leuchtete nur schwach, aber Sonia war sich sicher, daß sie sich nicht täuschte. Er sah aus wie der Duft von Koriander und fühlte sich an wie Maulwurfsfell.
Für ein paar stille Augenblicke war alles
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