Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
für Skorpion immer wieder stimmig ergab, ist das tiefe, abgründige, stehende Gewässer oder auch das Wasser, das einen Sog nach unten hat, wie zum Beispiel der Strudel, der einen verschlingen kann, oder Sumpfund Moorgewässer. Wenn diese Bilder auftauchen, ist immer eine Ambivalenz spürbar, die Angst und Lust gleichzeitig enthält, ein Anziehungs-Abstoßungs-Konflikt. Wenn einen etwas genauso magisch anzieht, wie es einen zu Tode ängstigt, dann hat das mit skorpionischer Energie zu tun. Im tiefen Wasser zum Beispiel, auf dem Grund eines stillen Sees kann ein Goldschatz oder ein Ungeheuer verborgen sein. Aber den Goldschatz bekommt nur der, der auch das Ungeheuer in Kauf nimmt. Wenn ein Baum mit seinen Ästen bis in den Himmel wachsen will, müssen seine Wurzeln bis zur Hölle reichen.
Ein sehr tiefes und wichtiges Bild des Skorpion-Gewässers ist der Strudel. Was kann man tun, wenn man in einem Fluss schwimmt und von einem Strudel in die Tiefe gezogen wird? Kämpft man gegen den Strudel an, wird einem irgendwann die Kraft ausgehen. Die einzige Chance besteht darin, sich von dem Strudel verschlingen zu lassen, sich ihm anzuvertrauen: Dann kann man von ganz unten wieder hochtauchen. Aber in dem Moment, wo einen der Strudel packt, weiß man nicht, wie tief der Fluss ist und ob man lebend wieder daraus hervorkommt. Solche Begegnungen mit dem Tod mitten im Leben, wo man kein Ass mehr im Ärmel hat, wo man sich bedingungslos dem Strudel überlassen muss, wo das bewusste Ich sich als ohnmächtig und verzweifelt erlebt, haben Skorpion-Qualität. Wer Verzweiflungsbereitschaft mitbringt, hat hier schon gewonnen, der kann im Leben Wandlungserfahrungen machen im Sinne von Einweihung, Transformation, Initiation: Stirb-und-werde-Erfahrungen, Häutungen. Die Märchen wissen: Erst im Moment der absoluten Dunkelheit, wenn die bewusste Lebenshaltung keinen Ausweg mehr weiß, wenn man das Leben nicht mehr im Griff hat, wird die Begegnung mit einer Gestalt, die göttliche Führung symbolisiert, möglich. Diese Figur kommt immer aus dem Symbolkreis des höheren Selbst: der alte Weise, die weise Frau, die gute Fee, das hilfreiche Tier. Die Voraussetzung dazu ist Verzweiflungsbereitschaft, es ist eine Verabredung mit dem Tod und mit Gott zugleich.
Ein Märchen, das vor allem für Männer mit Skorpion-Energie Pflichtlektüre sein sollte, ist Der Eisenhans . Das gilt auch für das gleichnamige Buch Eisenhans von Robert Bly, einem amerikanischen Philosophen, der zu den Initiatoren der »Wilder-Mann-Bewegung« in Amerika gehört. Dieses Märchen fängt schon sehr skorpionisch an, in einem dunklen Wald in einem Königreich, und alle Jäger (der Jäger an sich ist übrigens ein Skorpion-Symbol), die in diesen Wald gehen, kommen nicht zurück. Der Wald wird schließlich gemieden, er liegt lange Zeit wie tot da, bis eines Tages ein Jäger aus einem fernen Land kommt. Er durchquert den Wald mit seinem Hund, der vor ihm herläuft, doch als dieser auf einen Pfuhl zurennt, kommt eine Hand aus dem Sumpf und zieht den Hund in die Tiefe. Der Jäger holt Hilfe, der Sumpf wird trockengelegt, und am Boden des Pfuhls entdeckt man einen Mann, der mehr Tier als Mensch ist, behaart am ganzen Körper. Er wird im Königsschloss in einem Käfig gefangen gehalten, und es heißt, dass es bei Lebensstrafe verboten ist, ihn herauszulassen. Doch dann passiert eine ganz entscheidende Szene: Als die Eltern gerade nicht da sind, spielt der kleine Königssohn mit seinem goldenen Ball, und der rollt in den Käfig des wilden Mannes, des »Eisenhans«. Der Ball, die Kugel, ist ein Ganzheitssymbol, das für die runde Persönlichkeit steht. Aus diesem Grund muss die Figur, der ein Ball wegrollt oder eine Kugel hinfällt, zum Beispiel beim Froschkönig , immer dem Ball nach und das suchen, was zur Ganzheit fehlt. Der goldene Ball rollt also in den Käfig des wilden Mannes, und man kann sich vorstellen, dass so ein kleiner Königssohn ein braver Sohn ist – mit einem König und einer Königin als Eltern weiß man schließlich, wie man sich zu benehmen hat. Da darf man der Familie keine Schande machen. Also bittet der Königssohn den Eisenhans: »Bitte, lieber Mann, gib mir meinen Ball wieder.« Dieser antwortet: »Nur wenn du mich rauslässt.« Das heißt: Du bekommst deine Ganzheit nur dann, wenn du mich befreist, wenn du den wilden Mann in dir befreist. Was fehlt einem braven Jungen, einem braven Sohn denn zur männlichen Ganzheit? Genau die Energie des Eisenhans, des
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