Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
wilden Mannes. Insofern ist der Satz, den dieser wilde Mann spricht, sehr einleuchtend. Der Königssohn sagt: »Das darf ich nicht, meine Eltern haben es verboten.« Und da sagt der Eisenhans: »Gut, dann kriegst du deinen Ball eben nicht wieder.« Das geht drei Tage so, und schließlich ist der Königssohn entschlossen, das Tabu zu verletzen. Er sagt: »Gut, ich lass dich raus, aber ich weiß nicht, wo der Schlüssel zu deinem Käfig ist.« Da sagt der wilde Mann: »Das kann ich dir verraten. Er liegt unter dem Kopfkissen deiner Mutter.« Der Königssohn stiehlt den Schlüssel, lässt den wilden Mann frei, und jetzt bekommt der Königssohn Todesangst – ich habe das Tabu verletzt, ich bin nicht mehr der gute Sohn, ich bin jetzt sozusagen als Sohn meiner Eltern gestorben, vor allem als Sohn meiner Mutter. Aus dieser Angst heraus bittet er den wilden Mann: »Bitte nimm mich mit, ich kann hier nicht bleiben.« Der wilde Mann sagt: »Du dauerst mich« und nimmt den Kleinen mit sich in den Wald. Im Wald wächst er unter der Obhut des Eisenhans zum Mann heran, wie bei einer Initiation.
In vielen Stammeskulturen ist es üblich, dass ein heranwachsender Sohn irgendwann der Mutter, der Familie, »geraubt« wird und durch oft sehr schmerzhafte und Furcht erregende Initiationsriten zum Mann gemacht wird. Der Sohn muss symbolisch sterben, damit der Mann geboren werden kann. In der Eisenhans-Geschichte gibt der Sohn seine Eltern zunächst verloren, und die Eltern sind sehr traurig, weil sie glauben, ihr Sohn sei gestorben. Das ist symbolisch gut zu verstehen. Es gibt Zeiten, da hat man als Vater oder Mutter das Gefühl: Mein Kind ist für mich gestorben. Es ist nicht mehr Sohn oder Tochter, es ist ein Mann oder eine Frau geworden, und diese Ablösungsprozesse sind unterschiedlich schmerzhaft und schwierig. Am Ende dieses Märchens erfolgt allerdings die Heimholung der Eltern. Der Eisenhans erzieht den Königssohn zum Mann, er gibt ihm drei Hengste, mit denen er seine Prinzessin erobern kann, und als am Schluss Hochzeit gefeiert wird, kommen sowohl die Eltern, die überglücklich sind, ihren Sohn wiederzusehen, als auch der Eisenhans, und zwar als das, was er wirklich ist – ein König, der verwunschen war.
Das ist ein fast idealer Entwicklungsablauf, könnte man sagen. Irgendwann müssen wir als Söhne oder Töchter bereit sein, ohne den Segen der Eltern zu leben. Das kann mal schwieriger, mal fließender gehen, je nach Familiensystem. Und es mag Zeiten geben, wo wir das Gefühl haben, unsere Eltern sind für uns gestorben, so wie umgekehrt die Eltern ihren Kindern zu verstehen geben können: Wenn du so bist, brauchst du gar nicht mehr nach Hause zu kommen, dann bist du für mich gestorben, bist du ein Nagel zu meinem Sarg. Nach so einer schmerzhaften Ablösungsphase kann eine Begegnung mit den Eltern auf einer anderen Ebene möglich werden, nämlich auf der Ebene der Freundschaft. Du bist dann nicht mehr Sohn oder Tochter, abhängig von der Anerkennung und vom Segen durch Vater oder Mutter, sondern du bist jetzt König oder Königin in deinem Reich und dein eigener Richter. Aber damit es so weit kommen kann, müssen beide Seiten etwas tun: Die Eltern müssen sich oft sehr schmerzlich von einem Wunschbild des Kindes verabschieden, und die Kinder müssen so mutig sein, Tabus zu verletzen und eine Zeit lang im Leben ohne den Segen der Eltern auszukommen.
Ich möchte hier zwei Sätze einander gegenüberstellen, die beide richtig sind und doch grundverschieden. Satz Nummer eins: Du sollst deine Eltern ehren. Satz Nummer zwei: Kinder müssen so mutig sein, ihre Eltern zu »töten«, und Eltern so weise, keine Vergeltung zu üben. Beides ist richtig. Du sollst deine Eltern ehren, sagen auch die Familientherapeuten. Sie sagen, wenn man im Lauf seines Lebens nicht so weit kommt, die Eltern zu würdigen, bei allem, was sie einem angetan haben mögen, schadet man sich selbst. Wenn man sein Leben lang in einer Haltung der Anklage und Rache verharrt, tut man sich damit keinen Gefallen. Die Heimholung der Eltern ist für jeden von uns ein wichtiger seelischer Akt. Das kann auch noch geschehen, wenn die Eltern schon längst gestorben sind. Satz Nummer zwei – Kinder müssen so mutig sein, ihre Eltern zu »töten« – bedeutet, die Sohn-oder Tochter-Mentalität zu verabschieden, genau wie es im Eisenhans-Märchen passiert. Das ist ebenfalls wahr und in einer bestimmten Entwicklungsphase für jeden Menschen ein Thema.
Der Abschied von
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