Der Tiger im Brunnen
aus Protest und Gegenprotest unter, doch Goldberg schien das nicht zu überraschen und er wartete lächelnd, bis sich die Versammlung wieder halbwegs beruhigt hatte. Dann fuhr er fort: »Ja, wir sollten niemanden diskriminieren. Das ist der erste Grund. Der zweite ist einfacher. Wie immer die Zeitung auch heißen wird, schon jetzt steht fest, dass ich den größten Teil der Artikel beisteuern werde. Ich schreibe aber in Englisch und ihr habt kein Geld für einen Übersetzer. Davon abgesehen ist das Schreiben auf Englisch der einzige Weg, es zu verbessern.«
»Aber dein Englisch ist doch ausgezeichnet, Genosse Goldberg«, wagte eine schüchterne Stimme einzuwenden.
»Oh, mein Englisch ist tadellos«, sagte Goldberg munter. »Mir geht es darum, das Englisch meiner englischen Leser zu verbessern.«
Allgemeines Gelächter.
»Und was ist mit dem dritten Grund?«, fragte jemand.
»Ja, der dritte Grund ist der überzeugendste von allen. Tatsächlich hat er eine solche Durchschlagskraft, dass er jeden, der ihn einmal gehört hat, für sich einnehmen muss. Mir hat er sofort eingeleuchtet – aber leider habe ich ihn vergessen.«
Grinsen und Gelächter. Goldberg wusste, wie man das Publikum für sich gewinnen kann, und nun hatte er es auf seiner Seite. Zwar murrten und stritten manche noch, doch er wusste, dass er sich durchgesetzt hatte.
»Ich beantrage«, rief ein älterer Mann mit einer abgewetzten Mütze, »dass die Versammlung den Vorschlag des Genossen Goldberg annimmt, so bitter es auch für mich persönlich ist, denn ich werde jedes englische Wort mühsam buchstabieren müssen.«
»Aber wir haben den Vorschlag doch noch gar nicht diskutiert!«, warf eine andere Stimme ein. »Wenn Genosse Goldberg unsere ehrwürdigen Traditionen über Bord werfen und uns alle zu Engländern machen will, müssen wir das erst ausführlich bereden. Erstens …«
Während die Sozialdemokraten einmal mehr ihrer Leidenschaft frönten, über etwas zu diskutieren, das als Ergebnis eigentlich schon feststand, zündete sich Goldberg seine erloschene Zigarre wieder an. Dann tauchte er die Feder ins Tintenfass und schrieb den Satz weiter, bei dem er vorhin unterbrochen worden war.
In dem brechend vollen Saal war es so laut, dass niemand bemerkte, wie die Tür aufging und eine schmale Gestalt hineinglitt. Der rotbärtige junge Mann, der mit dem Dampfer gekommen war, schaute sich, den Rucksack in der Hand und mit vom Zigarrenqualm gereizten Augen, um. Dann fragte er den Erstbesten im Saal und blickte in die Richtung, die ihm gezeigt wurde. Durch die voll besetzten Reihen steuerte er schließlich auf den Tisch zu, an dem Goldberg saß. Der schrieb immer noch mit Ungestüm und nahm von ihm überhaupt keine Notiz.
Der junge Mann hustete und sprach ihn an: »Genosse Goldberg?«
»Ja bitte?«, sagte Goldberg, ohne aufzublicken.
»Mein Name ist Jakob Liebermann. Ich bin erst heute in London angekommen. Ich – «
»Liebermann! Ah, wie schön, dich zu sehen! Dein Artikel im Arbeiter Freind … wirklich gut geschrieben!«
Goldberg gab ihm die Hand und bot ihm einen Stuhl an. Liebermann setzte sich und versuchte sich seine freudige Erregung nicht anmerken zu lassen. Der große Daniel Goldberg hatte seinen Artikel gelesen und gelobt! Goldberg sah den jungen Mann jetzt etwas genauer an und legte seine Zigarre beiseite.
»Du siehst krank aus«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was ist es denn? Schwindsucht?«
Liebermann nickte nur. Er war fast am Ende seiner Kräfte.
»Ich schlage vor, wir wechseln das Lokal«, sagte Goldberg. »Die Luft hier ist zum Schneiden. Die Genossen werden noch bis Mitternacht diskutieren. Komm, ich habe oben ein Zimmer. Gib mir deinen Rucksack.«
Er räumte seine Papiere zusammen, warf sich den Rucksack über die Schulter, klappte das Tintenfass zu und nahm den Federhalter zwischen die Zähne. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Liebermann konnte ihm nur mit Mühe folgen.
»Der Auftrag, den ich hatte …«, begann Liebermann, während sie nach oben gingen. »Larousse hat mir deine Nachricht übermittelt … Nach meiner Flucht aus Berlin bin ich nach Lettland gegangen … Dort habe ich einiges erfahren …«
»Ich erinnere mich. Also erzähle.«
»Genosse Goldberg, gegen die Juden ist eine Verschwörung im Gange. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Juden warten an den Grenzen – ohne Geld, ohne Papiere … Diejenigen, die eine Fahrkarte ergattert haben, strömen in die Bahnhöfe und
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