Der Tiger im Brunnen
zu stecken. Dann schlug er den Mantelkragen hoch, legte einen dicken Wollschal um und begann wieder zu schreiben.
Das Heiratsregister
Bevor Sally am folgenden Morgen wie gewöhnlich in ihr Londoner Büro fuhr, legte sie Sarah-Jane noch einmal ans Herz, Harriet nicht aus den Augen zu lassen. Außerdem schärfte sie Ellie ein, keine Fremden ins Haus zu lassen.
Ihr Büro befand sich in der obersten Etage eines alten Gebäudes am Bengal Court, unweit der St.-Pauls-Kathedrale. Außer ihr arbeiteten in dem Haus noch ein Versicherungsvertreter, ein Brillenmacher, ein Tabakimporteur und der Vertreter eines amerikanischen Schreibmaschinenherstellers. Ferner hatte die Tricycling Gazette hier ihr Büro.
Überall herrschte emsiges Treiben. Die Menschen, die hier arbeiteten, waren stets freundlich, doch nun beschlich Sally der unangenehme Gedanke, dass einer von ihnen sie ausspioniert haben könnte. Woher sollte Parrish so viel über sie wissen, wenn er keine Spione hatte?
Margaret Haddow saß schon an ihrem Schreibtisch, als Sally kam. Sie war etwas jünger als Sally, wirkte aber aufgrund ihrer dunklen Garderobe und ihrer zugeknöpften Art älter. Sally vertraute ihr vorbehaltlos. Ihre Bürohilfe, Cicely Corrigan, kam aus Bromley zur Arbeit in die Stadt. Sie hatte morgens erst noch ihre gelähmte Mutter zu versorgen, daher kam sie gewöhnlich etwas später.
»Haben wir heute viel Arbeit?«, fragte Sally, während sie Mantel und Hut ablegte.
»Nicht so viel«, gab Margaret zur Antwort. »Wir sollten bis morgen diese südamerikanischen Bergwerksbeteiligungen überprüfen und dann würde ich gerne Mr Thomsons Akte mit dir durchgehen. Außerdem wollte ich Mrs Wilson besuchen, aber nicht vor drei Uhr. Vielleicht könnten wir auch die Aktien der australischen Goldminen näher analysieren – ich habe den Eindruck, sie steigen.«
»Könntest du das jetzt beiseitelegen und mir einen Gefallen tun?«
»Ich denke schon. Worum geht es denn?«
Sally weihte Margaret in alles ein. Die Geschichte war ihr mittlerweile vertraut, gleichwohl klang sie auch jetzt nicht glaubwürdiger. Margaret wusste von Harriet und war schon öfter in Orchard House zu Besuch gewesen. Sie zeigte bedeutend mehr Anteilnahme als der Anwalt und der Kanzleiangestellte.
»Das ist ja ungeheuerlich!«, entrüstete sie sich. »Was kann ich für dich tun? Soll ich vor Gericht für dich aussagen? Du brauchst es nur zu sagen.«
»Ich hoffe, dass es so weit nicht kommt«, sagte Sally. »Ich möchte herausfinden, warum er das tut. Wenn ich weiß, worum es genau geht, kann ich mich auch richtig verteidigen. Ich werde mir jetzt einmal das Heiratsregister in dieser Kirche anschauen – mein Zug fährt in vierzig Minuten – und ich muss mehr über Parrish erfahren. Könntest du an meiner Stelle in sein Büro gehen?«
»Selbstverständlich! Was soll ich dort tun? Ihn über den Haufen schießen?«
Sally lächelte. »So weit ist es noch nicht. Aber wenn du ihm eine plausible Geschichte erzählen könntest – irgendein Kommissionsauftrag für ihn, ganz gleich, was –, um auf diese Weise etwas über seine Geschäfte herauszufinden … Ich habe keine Ahnung, wonach ich suchen soll, weil ich nichts über ihn weiß. Was du auch herausfindest, es wird mir helfen.«
Sally kam gegen Mittag mit der Bahn in Portsmouth an. Sie fuhr mit einer Droschke zum Pfarrhaus von St. Thomas in Southam, einem Vorort von Portsmouth und gesichtslos wie viele andere: langweilige Backsteinreihenhäuser, ein paar schmuddelige Läden, ein Streifen Brachland längs der Eisenbahnlinie, mit dem auf die weitere Entwicklung spekuliert wurde.
Die Kirche war kaum fünfzig Jahre alt: genug, um schmutzig auszusehen, aber nicht genug, um Interesse zu wecken. Das Pfarrhaus sah genauso aus.
Der Geistliche, ein gewisser Mr Murray, saß gerade beim Mittagessen, wie ihr die Haushälterin mitteilte. Ob sie wohl in einer halben Stunde noch einmal wiederkommen könne? Sally bejahte und vertrieb sich die Zeit mit einem Besuch in der Kirche. Es war ein konventioneller neugotischer Bau ohne jeglichen architektonischen Reiz. Einzig interessant war eine Liste der Pfründeninhaber an der Wand. Southam hatte bislang fünf Geistliche gehabt. Pfarrer Murray war erst seit vergangenem Jahr im Dienst, gehörte also zum Zeitpunkt der angeblichen Eheschließung Sallys noch nicht der Gemeinde an. Sein Vorgänger hatte Beech geheißen.
Als sie annehmen durfte, dass der Pfarrer sein christliches Mittagsmahl beendet
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