Der Tod auf dem Nil
betrachten –, mag das sogar so sein. Aber die wirkliche und schmerzliche Wahrheit ist eine andere. Ich bestreite ja nicht, dass Jackie leidenschaftlich in Simon verliebt war, aber ich glaube, Ihnen ist bisher entgangen, dass er ihr womöglich nicht gleichermaßen zugetan war. Er mochte sie sehr gern, aber er hatte wohl schon, bevor er mich kennen lernte, das Gefühl, dass er sich geirrt hatte. Betrachten Sie das Ganze einmal mit klarem Blick, Monsieur Poirot. Simon merkt, dass er mich liebt und nicht Jackie. Was soll er machen? Den edlen Helden spielen und eine Frau heiraten, die ihm nichts bedeutet – also womöglich drei Leben zerstören? Denn ob er Jackie unter solchen Bedingungen noch glücklich machen kann, ist doch wohl fraglich. Wäre er, als er mich kennen lernte, schon mit ihr verheiratet gewesen, würde ich auch denken, es wäre seine Pflicht gewesen, bei ihr zu bleiben – obwohl ich nicht ganz sicher bin. Wenn einer von beiden unglücklich ist, leidet auch der andere. Aber eine Verlobung ist noch keine feste Bindung. Und wenn sie ein Irrtum war, dann stellt man sich dieser Tatsache doch bestimmt besser, bevor es zu spät ist. Ich gebe zu, es war sehr hart für Jackie und das tut mir auch sehr Leid – aber es ist nun mal so. Es war unausweichlich.»
«Wirklich?»
Sie starrte ihn an. «Was meinen Sie denn damit?»
«Alles sehr nachfühlbar, sehr logisch, was Sie sagen! Aber eins erklärt es nicht.»
«Und was ist das?»
«Ihr eigenes Verhalten, Madame. Wissen Sie, dass Sie verfolgt werden, könnte zweierlei bei Ihnen auslösen. Es könnte Sie entweder ärgern – ja, oder Ihr Mitleid erregen, weil Ihre Freundin so tief verletzt ist, dass sie ihr gesamtes Anstandsgefühl über den Haufen wirft. Aber so reagieren Sie nicht. Sie empfinden diese Nachstellungen als Zumutung – warum eigentlich? Es gibt nur einen möglichen Grund – Sie verspüren ein Gefühl von Schuld.»
Linnet sprang auf. «Was erlauben Sie sich! Wirklich, Monsieur Poirot, das geht zu weit.»
«Ich erlaube es mir eben, Madame! Ich werde auch weiterhin in aller Offenheit mit Ihnen sprechen. Ich behaupte, Sie haben, obwohl Sie sich alle Mühe gegeben haben, das vor sich selbst zu vertuschen, Ihrer Freundin willentlich den Mann weggenommen. Ich behaupte, Sie haben sich augenblicklich von ihm angezogen gefühlt. Ich behaupte, dass es einen Moment des Zögerns gab, in dem Ihnen klar war, dass Sie die Wahl hatten – abzulassen oder weiterzumachen. Und ich behaupte, dass die Entscheidung bei Ihnen lag – nicht bei Monsieur Doyle. Sie sind schön, Madame, Sie sind reich, Sie sind klug und intelligent – und Sie haben Charme. Mit diesem Charme können Sie jemanden für sich einnehmen, Sie können ihn aber auch zügeln. Sie hatten alles, Madame, was das Leben zu bieten hat. Das Leben Ihrer Freundin dagegen hing an einem einzigen Menschen. Das wussten Sie, und trotzdem haben Sie zwar kurz gezögert, aber nicht Ihre Hand zurückgehalten. Sie haben zugefasst und wie der reiche Mann in der Bibel dem armen sein einziges Schaf genommen.»
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Schließlich riss sich Linnet zusammen und sagte kalt: «All das gehört wohl kaum zum Thema!»
«O doch, es gehört zum Thema. Ich erkläre Ihnen gerade, warum die plötzlichen Auftritte von Mademoiselle de Bellefort Sie so aus der Fassung bringen. Das liegt daran, dass Sie innerlich überzeugt sind, sie ist, auch wenn sie sich für eine Frau noch so unwürdig und unpassend benimmt, im Recht.»
«Das stimmt nicht.»
Poirot zuckte die Schultern. «Sie weigern sich, ehrlich zu sich selbst zu sein.»
«Überhaupt nicht.»
Poirot erwiderte mild: «Ich möchte meinen, Madame, dass Sie immer ein glückliches Leben hatten und sich gegenüber anderen immer großzügig und freundlich verhalten haben.»
«Ich habe es jedenfalls versucht.» Erbostheit und Ungeduld verschwanden aus Linnets Gesicht. Sie klang jetzt ganz einfach – fast hilflos.
«Und deshalb bringt das Gefühl, dass Sie jemandem willentlich wehgetan haben, Sie so aus der Fassung, und Sie sperren sich so sehr dagegen, es sich einzugestehen. Verzeihen Sie, wenn ich unverschämt geworden bin, aber Psychologie ist immer der wichtigste Tatbestand bei einem Fall.»
Langsam antwortete Linnet: «Selbst wenn man davon ausgeht, dass Sie Recht haben – was ich nicht tue, kein Missverständnis, bitte –, was könnte man jetzt noch machen? Man kann die Vergangenheit nicht ändern; man muss doch die Dinge nehmen, wie sie
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