Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
dass sich Wien komplett verändert hatte. Heute war die Kaiserstadt eine großzügige, moderne Metropole, und die Ringstraße repräsentierte einerseits die kaiserliche Macht, andererseits den Einfluss des neuen Großbürgertums. Zwischen den architektonischen Glanzpunkten reihten sich die vornehmsten Hotels der Stadt und die Palais des neuen Geld- und Industrieadels, der sogenannten „Ringstraßenbarone“, sowie einige teure Mietpaläste. Außer Ludwig Viktor, dem jüngsten Bruder des Kaisers, haben sich nur wenige Angehörige des Hochadels dazu herabgelassen, am Ring ein Palais zu bauen. Das vor allem jüdische Großbürgertum hatte den Ring fest im Griff, was wiederum den Neid und die Missgunst der deutschnational gesinnten Wiener er-regte.
Eine neue Zeit war angebrochen. Die Tage schienen in der Residenzstadt einfach so dahinzuschwimmen, Tage voller Sinnlichkeit, voller Lebensfreude. Alles schien sich um Genuss und Vergnügen zu drehen. Die ausgelassene Stimmung, das ausschweifende Leben der Adeligen und schwerreichen Großbürger und der beinah südländische Müßiggang, der damit in die Wiener Gesellschaft einzog, behagten Gustav durch-aus.
Seine kluge Tante und ihre intellektuellen Freunde standen diesem Lebensgefühl kritischer gegenüber, sprachen von Dekadenz und stellten gern Vergleiche mit dem Untergang des alten Roms an.
Als er bei den monströsen neuen Museen angelangt war, überquerte er den Platz, in dessen Mitte das riesige Denkmal der Kaiserin Maria Theresia stand. Er grinste das Konterfei von Zumbusch an, dem Schöpfer des Denkmals, der sich selbst im Sockel verewigt hatte.
Die Abendsonne war durch die Wolkendecke gedrungen, verschwand bald darauf hinter den in Schönbrunnergelb gestrichenen Hofstallungen. Das Abendrot tauchte die Dächer in einen sanften orangeroten Glanz. Diese Stunde war Gustav die liebste. Er verweilte ein paar Minuten hinter dem Denkmal der voluminösen Kaiserin und betrachtete das farbige Wolkenspiel am Himmel. Als es zu dämmern begann, ging er hinüber zu seiner Wohnung.
Gustavs Großvater, ein gebürtiger Ungar, hatte alles über Pferde gewusst und als Stallübergeher einen durchaus ordentlichen Lohn bekommen. Als er wegen seiner Verdienste um die Wohlerhaltung der k. k. Hofstallungen vom Kaiser geadelt worden war, hatte man ihm eine großzügige Dienstwohnung über den Ställen um einen niedrigen Mietzins gegeben. Nach Gustavs Geburt waren bei den Karolys drei Dienstboten angestellt. Albert von Karoly war ein angesehener Mann gewesen und hatte in höhere Kreise eingeheiratet. Gustavs Großmutter stammte von älterem Adel ab als ihr Mann. Nachdem Albert gestorben war, ging es allerdings rapide bergab. So richtig schlimm wurde es, als Jahre danach auch seine Mutter dahinschied. Seine Tante hatte sich zwar verzweifelt bemüht, ihren gewohnten Lebensstil aufrechtzuerhalten, doch ihre Bemühungen waren vergeblich gewesen. Sie hatte nicht nur das Familiensilber, sondern bald auch den Schmuck, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, versetzt. So manch wertvolles Gemälde und so mancher Orientteppich waren ins Dorotheum gewandert. Das Dienstmädchen und die Köchin hatte seine Tante nach dem Tod des Großvaters entlassen. Nur die Wäsche gab man nach wie vor aus dem Haus und zweimal im Monat putzte eine junge Kroatin die Wohnung. Mit den dürftigen Honoraren für ihre Artikel in der Österreichischen Illustrierten konnte Vera von Karoly gerade die Putzfrau und die alte Josefa bezahlen, Gustavs ehemaliges Kindermädchen, die mittlerweile Dienstmädchen, Köchin und Haushälterin in einem spielte. Er wusste, dass Josefa um ihren Lohn oft billige Lebensmittel auf den Märkten in den Vorstädten einkaufte. Sie war eine treue Seele und interessierte sich nicht für Geld, war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, und liebte Gustav abgöttisch, verwöhnte ihn, genauso wie seine Großeltern ihn verwöhnt hatten. Seine Tante hatte sich bemüht, ihm den Vater zu ersetzen, war sehr streng gewesen, hatte sich in Erziehungsfragen aber kaum gegen seine Mutter und seine Großeltern durchsetzen können.
Von seiner Großmama hatte er ein ganz bestimmtes Bild in Erinnerung behalten. Fast den ganzen Tag lang war sie im Salon in einem gepolsterten Stuhl auf dem kleinen Podest unter dem Fenster gesessen. Und zwar mit dem Rücken zum Fenster. Mit einem großen Spiegel in der Hand hatte sie die Ereignisse vor den Reitstallungen beobachtet. Gustav, der oft zu ihren Füßen gehockt war, hatte
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