Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
Kindheit. Seine Mutter hatte bei all seinen Kinderkrankheiten sofort nach dem bekannten Arzt schicken lassen. Und er war immer prompt gekommen. Gustav glaubte zu wissen, warum.
„Ich habe bereits mit Rudi gesprochen“, sagte er trotzig.
„Und, was meint der Herr Polizei-Oberkommissär?“ Tante Veras Stimme klang auf einmal ein wenig schrill.
Seine Tante mochte Rudi, wusste aber nichts von seiner Sexbesessenheit, sonst hätte sie bestimmt weniger für ihn übrig gehabt. Denn trotz all ihrer Fortschrittlichkeit und liberalen Gesinnung war sie ziemlich prüde. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Gisela, die nicht nur die Schönheit der Familie, sondern auch dem männlichen Geschlecht sehr zugetan gewesen war. Giselle, wie sie sich genannt hatte, war in ihrer Jugend eine der beliebtesten und bekanntesten Operettensängerinnen der Kaiserstadt gewesen. Später hatte sie ein fixes Engagement als Sängerin im nicht weit entfernten Theater an der Wien gehabt. Angeblich war sie vor Gustavs Geburt gertenschlank gewesen. Nach der Schwangerschaft hatte sie ihr früheres Gewicht nie mehr erreicht und ihr Leben lang ein paar Kilo zu viel mit sich herumgeschleppt, wofür sie in ihren grauen Stunden ihren Sohn verantwortlich gemacht hatte. Ihr einziges Kapital wäre, außer ihrer Stimme, ihre Figur, hatte sie oft gesagt, als sie mit vierzig allmählich aus dem Leim ging und nur mehr kränkelte. Die letzten Jahre ihres Lebens hatte sie zu Hause im Bett verbracht und Unmengen von Süßigkeiten in sich hineingestopft. Vor drei Jahren war sie an Brustkrebs gestorben.
„Gibt es einen Erpresserbrief?“ Veras Frage riss ihn aus seinen trüben Gedanken.
„Bis jetzt nicht. Vielleicht ist die Kleine ja wirklich abgehauen. Bei diesem Großvater würde es mich nicht wundern.“
„Meint Rudi das auch?“
„Nein. Ich habe ihm nichts von der vermeintlichen Entführung erzählen dürfen. Du weißt, ich bin meinen Klienten verpflichtet.“
„So geht das nicht, lieber Gustav, du musst diese Dame härter ins Gebet nehmen.“
„Ich weiß, aber sie fängt immer gleich zu weinen an. Und ich kann nun einmal keine Frau weinen sehen. Außerdem war da dieser schreckliche Unfall auf der Ringstraße. Zwei kleine Kinder sind schwer verletzt worden. Margarete von Leiden wäre fast in Ohnmacht gefallen. Ich habe sie rasch nach Hause gebracht und die Ehre gehabt, ihren Herrn Papa kennenzulernen. Sein Benehmen war unmöglich …“
„Portiererisch?“
„Nein, wenn es nur das gewesen wäre. Er ist ein richtiges Ekel. Bildet sich mächtig was auf seinen Titel ein. Dabei ist er nicht einmal ein Freiherr. Ich hab, als ihr Briefchen kam, sofort im Gotha nachgesehen. Er gehört genauso zur Zweiten Gesellschaft wie wir, ist nichts Besseres als Großvater. Bestimmt haben wir den Titel sogar viel länger als der Schwabenau.“
„So sind sie alle, diese Kapitalisten. Ungehobelt, dummdreist und unverschämt. Du darfst dich von diesem Kerl ja nicht einschüchtern lassen!“
„Ich habe ihm eh Paroli geboten. Habe sogar Großpapa erwähnt. Er hat sich dann sofort über Mama lustig gemacht. Daraufhin bin ich gegangen.“
Vera strich ihm übers Haar. Sie wusste, dass ihr Neffe solche Zärtlichkeiten nicht goutierte, doch er tat ihr leid. Der Junge konnte nichts dafür, dass seine Mutter eine leichtlebige Frau gewesen war. Sie verurteilte ihre Schwester nicht wegen ihres Lebenswandels, verstand aber, dass ihr Neffe bis heute darunter litt. Obwohl Gisela nie zugegeben hatte, dass ihr langjähriger Liebhaber Graf Batheny Gustavs Erzeuger gewesen war, hatte Vera keinerlei Zweifel an Bathenys Vaterschaft. Gustav sah dem Grafen zum Verwechseln ähnlich. Er hatte seine dunklen feurigen Augen, seine edle, leicht gebogene Nase und seine schmalen, gut geschwungenen Lippen geerbt. Auch sein dichtes schwarzes Haar hatte er von seinem Vater. Und Gustavs vornehme Statur ähnelte ebenfalls der gertenschlanken Gestalt des Grafen.
Gustav war dem Grafen Batheny im Laufe seines Lebens einige Male begegnet. Dieser hatte sich zwar auffallend jovial ihm gegenüber verhalten, aber zu mehr als einem höflichen Wortwechsel war es nie gekom-men.
Seit Gustav denken konnte, hasste er seinen mutmaßlichen Vater, der sich nie zu ihm bekannt hatte. Und sein Hass schloss gleich den ganzen höheren Adel mit ein.
Als er erfuhr, dass ein unbekannter Gönner nicht nur das Gymnasium für ihn bezahlt hatte, sondern auch gewillt war, sein Studium zu finanzieren, studierte er aus Protest
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