Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
an den Küchentisch und griff nach der Neuen Freien Presse.
„Ich weiß, diese Zeitung ist das Nonplusultra für die junge geistige Elite des Landes, würdest du dich trotzdem dazu herablassen, mit deiner weniger kosmopolitischen alten Tante zu reden?“
Er tat so, als sei er in einen spannenden Artikel vertieft und hätte ihre ironischen Worte nicht gehört.
Geduld zählte nicht zu ihren Stärken. Da sie wusste, dass er sich mit einem neuen potentiellen Klienten getroffen hatte, bestürmte sie ihn mit Fragen: „Erzähl! Hat es geklappt? Hast du einen neuen Fall? Wer ist es? Worum geht’s?“
„Lass mich zuerst essen. Wir reden nachher in Ruhe darüber. Ich gehe heute nicht mehr weg.“
Ausnahmsweise gab sie nach. Sie schickte ihn nicht einmal vor dem Essen Händewaschen, sondern reichte ihm einen Teller mit Krautrouladen.
„Die Rouladen sind kalt“, meckerte er.
„Du kannst sie dir ja aufwärmen.“ Vera steckte sich ein Zigarillo an. „Ich mach uns nachher einen Kaffee“, fügte sie versöhnlich hinzu. „Josefa hab ich ins Bett geschickt. Sie fühlt sich nicht wohl. Hoffentlich wird sie nicht krank, sie hustet seit Tagen.“
„All dieser Staub und Dreck in Wien ist tödlich für sie. Mit Asthma ist nicht zu spaßen“, sagte Gustav mit ernster Miene, während er den Kohleofen einheizte.
„Vielleicht sollte ich mit ihr auf Sommerfrische ins Panhans am Semmering fahren? Aber ich habe so viel Arbeit. Ich kann unmöglich weg.“
„Kannst du nie. Du hast immer viel zu viel zu tun.“
„Sei nicht so frech!“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Finger. „Erzähl mir lieber von deinem neuen Fall.“
Grinsend überreichte ihr Gustav die Leckereien vom Demel.
„Hab heute gut verdient.“
Seine Tante war eine Naschkatze, konnte Süßigkeiten nicht widerstehen. Während sie ein winziges Marzipantörtchen nach dem anderen verschlang, schilderte er ihr kurz und bündig das Treffen mit Margarete von Leiden.
„Die Tochter des Herrn von Schwabenau hat mich beauftragt, ihr verschwundenes Kind zu suchen. Ich fürchte, es handelt sich um eine Entführung.“
„Leider kenne ich die Schwabenaus nicht näher. Mit diesen Neureichen will ich nichts zu tun haben, wie du weißt.“
„Du bist und bleibst ein Snob.“
„Du erst recht!“ Vera lachte. „Die Baronin soll sehr schön sein, habe ich gehört …“
Er antwortete nicht, lächelte nur.
„Ich kenne dich.“
„Hör zu. Die ganze Geschichte ist komplizierter, als ich anfangs gedacht habe. Ihre Tochter Leonie ist von einem anderen Mann.“
„Ein Kuckuckskind? Ei da schau her! Das kommt in den besten Familien vor. Wobei ich die Schwabenaus nicht zu diesen zähle.“
„Ich nehme an, dass der alte Schwabenau seine Tochter, als sie von ihrem vermutlich nicht standesgemäßen Liebhaber schwanger wurde, rasch mit dem Baron von Leiden verheiratet hat.“
„Ist der nicht vor einiger Zeit gestorben?“
Gustav nickte. Elendiglich an Syphilis zugrunde gegangen, hätte er am liebsten gesagt. Baron von Leiden war ein stadtbekannter Lebemann gewesen. Ein Spieler und Säufer, hoch verschuldet. Kein Wunder, dass er die schwangere Tochter des reichen Freiherrn genommen hatte. Hoffentlich hat er sie nicht angesteckt, dachte Gustav.
„Offiziell galt also Baron von Leiden als Leonies Vater. Warte, da war doch was. Lass mich nachdenken.“ Sie runzelte die Stirn.
Gustavs Mutter hatte oft mit ihr geschimpft und ihr jede Menge Falten angedroht. Es hatte nichts genützt, seine Tante hatte diese Angewohnheit beibehalten. Ihre hohe Stirn war dennoch fast falten-los.
„Ach ja. Baron von Leiden hatte immense Schulden. Sein Stadthaus wurde nach seinem Tod versteigert. Kein Wunder, dass sie mit ihrer Tochter zurück zu ihrem Vater gegangen ist. Ich glaube, mich dunkel zu erinnern, dass sich die schöne Margarete vor ihrer Verehelichung mit diesem alten Wüstling gern im Prater hat sehen lassen. Vielleicht solltest du dort mit deinen Nachforschungen beginnen?“
„Das hat sie selbst mir auch geraten. Leonie ist schon einmal von zu Hause abgehauen. Damals hat sie sich bei den Zigeunern auf der Vermählungswiese versteckt. Weißt du übrigens, wem ich diese neue Klientin verdanke? Dem Doktor Lipschitz, oder besser gesagt, meinem …“
„Dann red mit dem Lipschitz“, ließ Vera ihn seinen letzten Satz nicht beenden. „Als Arzt unterliegt er zwar der Schweigepflicht, aber er ist und bleibt ein altes Tratschweib.“
Gustav kannte Doktor Lipschitz seit frühester
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