Der Tod kann warten: Kriminalroman (Sandner-Krimis) (German Edition)
Vernunft einbläuen. Hinterher.
Red dir nichts ein, Sandner. Es gibt kein Hinterher, nur ein Mittendrin. Sie waren bereits auf dunklen Pfaden unterwegs. Die Show hatte begonnen, und ob sie alle mit heiler Haut und ohne dienstliche Schrammen davonkommen würden, stand auf einem anderen Blatt.
D ie Entführung der alten Dame hatte mit Brauners letztem Fall zu tun. Er musste ihn übernehmen, weil damals die Influenza drei Viertel der Staatsanwaltschaftsbelegschaft ins Bett geworfen hatte. Kein Standvermögen, die jungen Burschen. Aber herausgeputzt wie die Brauereigäule zur Wiesnzeit. Seidentüchlein und Lackschuh im Gerichtssaal – und Duftwässerchen und Puderchen, dass du meinen könntest, die Reinkarnation vom Sonnenkönig defiliert an dir vorbei.
Er hatte seinen Schreibtischinhalt bereits in der Schuhschachtel verstaut. Eine versilberte Schnupftabakdose mit Monogrammvon den Kollegen überreicht bekommen und ein Reserve-Bürgermeister hatte ihm die Hand getätschelt. Er hat längst vergessen, welcher es war. Fünf Jahre her. Das Haifischlächeln nebst gewollt sportlichem Händedruck ist ja bei allen Politikern identisches Handwerk.
Und dann dieser Fall:
Ein kleines Licht aus dem Harthofviertel hätte bei einer Rauferei seinen Kontrahenten abgestochen. Zwei Stiche, einer exakt ins Herz. Wohl ein Zufallstreffer. Glück gehabt. Eine erfolgreiche Aktion mit zwei Promille im Blut. Da könntest du getrost im Kasino zocken. Wobei sich Glück unterschiedlich definieren lässt. Keine große Sache – ermittlungstechnisch eindeutig. Abgefüllt bis zur Oberkante, vom Tatort geflüchtet, und das Messer wurde später in seinem Kellerverschlag gefunden. Andere Täter kamen nicht infrage. Bingo. Noch Fragen, Herr Richter? Dass der Mann bis zuletzt seine Unschuld beteuert und einen Unbekannten als Täter benannt hatte, war nur eine Randerscheinung gewesen. Typischer Täterreflex. Jeder Zweite gibt die Scheherazade und probiert es mit einem Märchen aus Tausend und einer Nacht. Die wenigsten sind unterhaltsam. Schützt daher vor Strafe nicht. Letzten Endes Indizienprozess, zwölf Jahre Stadelheim.
»Und jetzt haut mir jemand die alte Geschichte um die Ohren«, schließt der Alte seine Erzählung ab, »wie ein Springteufel hupft die aus dem Kasterl.«
B rauners Mutter lebt seit neun Jahren im Altenheim. Damit dürfte sie sich hierarchisch und überlebenstechnisch weit nach oben gearbeitet haben im Bewohner-Ranking. Du brauchst eine Portion Fatalismus oder musst religiös gut unterfüttert sein. Wenn du zuschauen darfst, wie die jüngeren »Golden Agers« sich himmelwärts davonmachen, fragst du sonst am Ende gar nach Sinn.
Der Sandner hat sie und ihren Sohn einmal getroffen – überraschenderweise in einem Jazzclub in Haidhausen beim Gastspiel der »Al Porcino Big Band«. Anders als der Oberstaatsanwalt, der bayrisches Liedgut vorzieht, ist sie der zeitgenössischen Musik aufgeschlossen gegenübergestanden. Louis Armstrong und Ella Fitzgerald hat sie vergöttert – aber die heutigen Jazzgrößen durchaus nicht verschmäht. Der Brauner hat in den sauren Apfel beißen müssen. Es ist ihr Geburtstagswunsch zum Fünfundneunzigsten gewesen. Er wäre lieber zum Obermenzinger Musikantenstammtisch im »Grünen Baum« gegangen.
Die alte Frau und ihr Sohn sind früh verschwunden an jenem Abend. Weil er nebst anregender Begleitung am Nebentisch gesessen ist, hat der Sandner ab und zu einen Blick auf sie geworfen. Ein ums andere Mal ist der Seniorin, trotz treibender Rhythmen und virtuoser Trompetensoli, der Kopf auf die Brust gesunken. Wie sie beide synchron mit ihren Gehstöcken von dannen gezogen sind, hätte man sie fast für ein Paar halten können. Im Alter nähert man sich halt immer weiter an.
Kurz hatte sich der Sandner mit der Frage beschäftigt, ob er wohl in dreißig Jahren genauso daherhatschen würde, als exotisches Exemplar zwischen feierndem Jungvolk. Oder wäre er längst von Spinnweben überzogen, auf seinem Couch-Stammplatz vor dem brüllenden Fernseher festgeklebt? Bei Mutter Brauner war offensichtlich noch genug Saft in der Batterie gewesen.
Brauners Vater Justus ist aus dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr heimgekommen. Serbische Partisanen haben ihm das Kerzerl ausgeblasen. Da hat sein Stammhalter gerade die ersten Wörter gebrabbelt. »Papa« hat er nicht mehr lernen brauchen.
Überhaupt ist die männliche Verwandtschaft dezimiert worden in jener Zeit. Ein Onkel hat die Nazi-Polizeihaft in der Ettstraße
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