Der Tod meiner Mutter
kam er und legte meiner Mutter eine Infusion, und sie unterhielten sich, während sie warteten, dass die Infusion
durchlief. Er hatte bei diesen Hausbesuchen immer einen Anorak an, als ob er zum Wandern ginge. Der Anorak war blau und etwas
zu groß, er wirkte darin wie ein Kind, das von seinen Eltern falsch angezogen worden war. Er kam abends nach der Arbeit, und
manchmal ging er danach noch ins Konzert, ins Theater oder in die Oper, er hatte dreiAbonnements, sagte er einmal in einem Ton, als würde er ein Geheimnis verraten. Er zog sich dann in seiner Praxis um, die
in der Maximilianstraße lag, schräg gegenüber vom Bühneneingang der Oper, eine einfache Praxis im ersten Stock. Doktor Koschine
war ein Mann, der viel arbeitete. Er sagte oft: »Das ist schon in Ordnung«, wenn er von meiner Mutter sprach, was ich immer
wieder gern hörte, weil er selbst daran zu glauben schien. Vor allem aber, weil er damit meinte, dass wir das mit dem Tod
schon gemeinsam hinkriegen würden.
Als er mich dann anrief, war ich tatsächlich überrascht. Ich hatte gedacht, dass wir es ohne Krankenhaus schaffen würden,
auch wenn das vielleicht naiv gewesen war; und ich wusste nicht, was ich meiner Mutter sagen sollte.
»Ich habe schon mit ihr gesprochen«, sagte er, »sie ist einverstanden.«
»Sie ist einverstanden?«
»Sie leidet, wissen Sie. Es strengt sie an zu atmen.«
»Und was heißt das, punktieren?«
»Ich würde das lieber im Krankenhaus machen, das ist sicherer. Die Flüssigkeit wird dort auch gleich untersucht.«
Ich schaute auf die Autos, die durch das dunkle Berlin fuhren, so weit weg, so nah.
»Und wann?«
»Gleich morgen.«
Ich legte auf, ging in die Küche, machte denKühlschrank auf, machte ihn wieder zu. Ich nahm den Flug am frühen Nachmittag, und als ich im Krankenhaus ankam, war es schon
dunkel.
Es war ein Gefühl zwischen Aufgeregtheit und Ruhe, zwischen Ergebenheit, Erschrecken und Erleichterung. Die Krankheit hatte
sich selbstständig gemacht. Der Punkt war gekommen, an dem es kein Ausweichen mehr gab.
Eine Weile geht das recht gut, sehr lange sogar. Der Körper ist mehr eine Ahnung, der fremde sowieso, und so bleibt das, was
die Krankheit mit ihm macht, ein Rätsel. Dieses Rätsel bleibt intakt, muss intakt bleiben, es wäre zu schmerzhaft, es zu ergründen.
Man kann reden und kann es sein lassen; man kann zum Arzt gehen und zu einem anderen Arzt und kann es sein lassen; man kann
sich seinen eigenen Ängsten stellen und kann es sein lassen; man kann die Krankheit nutzen, um sein Leben zu ändern, und kann
es sein lassen. Immer geht es darum, wie man mit der Krankheit umgeht; selten geht es um die Krankheit selbst.
Es ist eine schiefe Bahn, diese Krankheit, was man aber nur merkt, wenn man sich gerade hält; also macht man sich auch schief,
damit man nicht merkt, wie rasch es geht, wie rasch es gehen könnte. Und erschrickt dann, wenn es passiert; erschrickt, aber
eben nicht nur; ist auch erleichtert, dass es sich zeigt, wie es ist, das Wesen der Krankheit, endlich. Zeit, die auf diesen
Moment zuläuft.
Meine Mutter hatte ihr ganzes Leben über versucht, stark zu sein, vor allem nach der Scheidung. Stark sein, unabhängig sein,
frei sein. Sie hatte das geübt, hatte es trainiert. Ich würde sagen, dass das eine Fiktion ist, eine Selbsttäuschung, dass
die Stärke, so wie sie das verstand, etwas Heroisches hatte, fast etwas Pathetisches, und wie alles Heroische machte sie das
in letzter Konsequenz einsam.
Im Sterben meiner Mutter spiegelte sich noch einmal vieles von dem, was ihr Leben bestimmt hatte, dieses Leben, das manchmal
wirkte wie eine Versuchsanordnung, sie war eben die Tochter eines Ingenieurs. Sie hatte sich alles so genau überlegt. Sie
hatte vorausgedacht, ihr Kopf war schneller gewesen als ihr Körper, und als ihr der Körper entglitt, blieb ihr immerhin der
Rest dieses Plans.
Da gab es ihre Freunde, vier, fünf alte Freunde und zwei, drei neue Freunde, die ihr halfen, die eine kochte und kümmerte
sich um den Garten, die andere konnte nicht kochen und kaufte dafür ein, der eine baute eine Stufe aus Holz, damit sie nicht
stolperte, wenn sie auf die Terrasse wollte, der andere half ihr, wenn das Telefon nicht ging. Jeder hatte seine Funktion
und seinen Platz, und so musste meine Mutter nur so viel Nähe zulassen, wie sie wollte.
Da gab es die Helfer im Haus, den jungen Sebastian und die immer etwas müde Nachbarin, es gab die
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