Der Tod meiner Mutter
dieverständlich war, aber auch verletzend sein konnte, und einer Weichheit, die ich nicht kannte, aber sehr mochte.
Ich würde am nächsten Morgen nach Berlin zurückfahren, ihre Freundin würde da sein, wenn meine Mutter mit dem Krankenwagen
nach Hause käme, sie würde sie ins Bett bringen, und Doktor Koschine würde vorbeikommen, Doktor Koschine, der gesagt hatte,
dass alles in Ordnung sei, »es ist alles in Ordnung«, hatte er gesagt. Ich würde Mitte der nächsten Woche wiederkommen, zusammen
mit meiner Frau. Wir hatten am Wochenende einen Geburtsvorbereitungskurs in Berlin. Meine Mutter hatte schon öfter gesagt,
sie mache sich Sorgen, weil ich so oft bei ihr sei und nicht bei meiner Frau, sie hatte gesagt, sie wolle nicht schuld sein,
sie wolle nicht, dass dem Kind etwas passiert. Sie wollte das Leben nicht durch das Sterben gefährden.
Meine Frau hatte den Besuch immer wieder hinausgeschoben, weil sie wusste, dass es ein Abschiedsbesuch war, und weil sie nicht
wollte, dass es auf meine Mutter so wirkte. Ich hatte sie überreden müssen, es war für sie schwierig, diese beiden Ereignisse
auseinanderzuhalten, das Kind, das noch fern schien, und das Sterben meiner Mutter, das so nah war. Meine Frau und sie waren
nie wirklich eng miteinander, sie hatten eher eine zugewandte Distanz, die man Respekt nennen könnte. Jetzt, wo diese beiden
elementaren Ereignisse zusammenfielen, Geburt und Tod, spürte ich eine Verbundenheit zwischen ihnen, die ich vorher nicht
gekannt hatte und die mich nun manchmal sogar ausschloss.
»Willst du noch etwas essen?«
Das Tablett stand am Fußende des Bettes. Meine Mutter lächelte.
Es klopfte an der Tür, und der Arzt kam herein. Meine Mutter war bei der AOK versichert, aber die Chefarztbehandlung hatte
sie sich geleistet. Der Arzt schüttelte mir die Hand, was im Krankenhaus etwas zwischen »Guten Tag« und »Herzliches Beileid«
bedeutet.
»Ich gehe mal kurz auf den Balkon.«
Der Arzt nickte. Meine Mutter reagierte nicht, als ich aufstand, und ihre Hand, die ich gehalten hatte, glitt sanft und warm
aus meiner.
Draußen war es dunkel und kühl. Ich konnte die Isar von hier aus sehen, selbst im Dämmerlicht, es ging ein Leuchten aus von
diesem Fluss, das er auch bei Tag hatte, etwas von dem Glanz der Berge schien er mit sich zu tragen und selbst das Rauschen
erinnerte mich an einen Bergbach und nicht an einen der ernsten deutschen Flüsse, auf denen Schiffe fuhren und um die gekämpft
wurde. Die Isar ist ein heiterer Fluss, leicht, beschwingt, fast frei.
Schon wegen der Isar musste meine Mutter München mögen. Weiter konnte sie sich nicht entfernen vom Bremen ihrer Kindheit,
von der engen Bürgerlichkeit und dem Eckhaus im vornehmen Stadtteil Schwachhausen, ein Haus mit kleinem Garten und kleinen
Zimmern umgeben von größeren Häusern mit größeren Zimmern. Ein Haus, das wirkte, als sei es falsch am Platz.Aber die Hövelmanns waren in Schwachhausen, das war wichtig, sie waren auf dem richtigen Weg, nach oben. Den Aufstieg wollte
vor allem Martha, eine einfache Frau aus einer Soldatenfamilie, mehr noch als ihr Mann Hans-Hermann, ein Erfinder, der Ende
der fünfziger Jahre ein Container-Patent für 65 000 Mark verkaufte, ein Bastler, dessen Vater Maschinenbau studiert hatte
wie er, ein kalter, distanzierter Mensch, der enttäuscht war, als keiner seiner drei Söhne Ingenieur wurde.
Martha war protzig, Hans-Hermann war fleißig. Die eine war verlogen, der andere war verschlossen. Zärtlichkeit gab es nicht,
Nähe gab es nicht, und geredet wurde auch nicht. 1963 starb Hans-Hermann. Während der Arbeit, wie sonst. Am Herzinfarkt, heißt
es.
Auch um diesen Tod gibt es Gerüchte, so wie vieles Gerücht war und Geraune in dieser Familie. Eine Geschichte, die Martha
immer wieder erzählte, war die von den polnischen Kriegsgefangenen, die sie beschützt habe. Eine andere, die meine Mutter
erzählte, war die von dem Russen, der sie und ihren Bruder packte und in Sicherheit brachte, als sie während eines Bombenangriffs
in einem Keller im Hafen saßen und auf einmal das Wasser zu ihnen hereinschoss. Die Geschichte meiner Großmutter handelte
von Rettung, die meiner Mutter vom Gerettetwerden.
Familie jedenfalls blieb bei den Hövelmanns immer etwas Äußerliches, etwas, das mit Fassade zu tun hatte und auch mit Kränkung.
Meine Mutter war kaum vier,als Deutschland Polen besetzte, gegen Ende des Krieges wurde sie mit ihrem
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