Der Tod meiner Mutter
verschiedenen Pflegerinnen,
es gab »meinen« Taxifahrer, wie sie immer gern sagte, und »meinen«Gemüsehändler und »meine« Getränkefrau und »meinen« Apotheker, und die Art, wie sie über diese Leute sprach, zeigte einen
sozialen Besitzerstolz, der mir nie aufgefallen war, als sie noch am Leben war. Aber als ich nach ihrem Tod mit ein paar ihrer
Freunde sprach und mit ihren Geschwistern, da merkte ich, wie sehr das dem Statusdenken glich, das meine Mutter an ihrer eigenen
Mutter so gestört hatte.
Auch ich hatte einen Platz in diesem Plan, aber wir waren uns beide nicht ganz sicher, wie dieser Platz aussehen sollte. Das
lag zum einen an mir, zum anderen an ihr, vor allem aber daran, dass sie lange brauchte, bis sie das Wort »Mutter« ohne Spott
oder sogar Verachtung aussprechen konnte. Sie wollte auf keinen Fall eine Mutter sein wie all die anderen und vor allem nicht
wie ihre eigene, jene Martha Hövelmann, die uns manchmal Butterkuchen mit der Post schickte, die ich vier oder fünf Mal gesehen
habe, die in meinem Leben keine Rolle spielte und an deren Gesicht ich mich nicht erinnern kann, nur an ihre Brille. Sie hatte
den vier Geschwistern meiner Mutter immer gesagt, dass die eine Klasse übersprungen und ihr Abitur mit einer Eins gemacht
hatte, was gar nicht stimmte, aber es wäre halt schön gewesen und außerdem konnte sie so die anderen Geschwister etwas verunsichern
und antreiben, das war ihr Wesen.
Diese selbstbezogene Verlogenheit bleibt als Bild von meiner Großmutter, die selbstbestimmte Freiheit war das Ideal meiner
Mutter, dazwischen tat sich eine Leereauf, die wir nur teilweise gemeinsam füllten. Als sie stark war, merkte ich das nicht; als sie schwach wurde, gelang es uns
besser.
Wir beide verstanden irgendwann, dass es eine ganz andere Art von Stärke erfordert, schwach zu sein. Meine Mutter musste erst
lernen, schwach zu sein.
Ich setzte mich zu ihr, auf den Rand des Bettes. Morgen würde sie entlassen werden, das hatten die Ärzte versprochen. Morgen
war Freitag, wenn sie dann nicht entlassen würde, das war meine Angst, müsste sie noch das ganze Wochenende im Krankenhaus
bleiben. Eigentlich sollte sie nur eine Nacht dort sein, jetzt waren es schon drei. Das Wasser aus der einen Lungenhälfte
musste entfernt werden, aber weil es so viel war, konnte die andere Hälfte nicht mehr punktiert werden. Meine Mutter musste
also eine zweite Nacht im Krankenhaus bleiben. Und noch eine dritte, zur Kontrolle.
»Ja, ja«, hatte sie gesagt, als habe sie schon geahnt, dass sie am Ende doch noch verraten werden würde, um ihr Sterben betrogen.
Ich schaute sie an und schaute weg, schaute zum Fenster, weil sie recht hatte und gefangen war in einer der Schleifen, die
der Tod immer enger um einen zieht. Gerade ganz am Ende, wenn jede Maßnahme zugleich notwendig und überflüssig ist.
»So soll Ihre Mutter nicht sterben«, hatte Doktor Koschine gesagt, und er meinte damit das Röcheln und Schnaufen und die Atemnot
und die Angst und das Wasser in der Lunge. Natürlich nicht. Aber so wollte sieeben auch nicht leben, in einem fremden Zimmer, mit einer Bettdecke, die nicht nach ihr roch.
Sie hat sich ja sogar ihr eigenes Bettzeug mit in den Urlaub genommen. Warum war ihr das so wichtig?
Als ich neben ihr saß, in diesem fremden Zimmer, da hatte ich kein schlechtes Gewissen; ich wollte keines haben. Ich wollte
nicht, dass dieses Gefühl, dieses negative Gefühl, das überdeckte, was war. Ich wollte ihr helfen, wollte das Richtige tun.
Ich wollte der Sohn sein, der erwachsen geworden ist, der für seine Mutter sorgen kann. Und ich wollte wahrnehmen, wollte
erinnern, wollte mitnehmen, was ich konnte. Das lähmte und beflügelte mich zugleich, ich war gefangen in einer der Schleifen,
die der Tod auch um die zieht, die dabeistehen und zusehen.
Ich legte ihr die Hand auf den Kopf und streichelte leicht über ihre Haare, dünne Haare, Kinderhaare. Sie bewegte den Kopf
ein wenig, immerhin. Die Zärtlichkeit, die gewachsen war, ganz langsam, vor allem in den letzten Wochen, als die Krankheit
meine Mutter endgültig beherrschte, diese Zärtlichkeit und Intimität, das war etwas, das ich ihr geben wollte. Das ich mitnehmen
wollte. Das tatsächlich da war, das nicht selbstverständlich war, für uns jedenfalls nicht.
»Morgen kommst du nach Hause.«
»Das sagst du.«
»Und Elfi wird da sein.«
»Das wäre schön.«
Sie schwankte, zwischen einer Skepsis,
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