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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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jüngeren Bruder Klaus, wie so viele Kinder aus
     den Städten, aufs Land geschickt. Als sie wieder nach Bremen kam, »saß auf einmal diese dicke Bratze« da, so sagte sie das
     selbst, es war ihre Schwester Mechthild, von deren Geburt ihr die Eltern nichts erzählt hatten.
    Die Verbindungen der Geschwister untereinander blieben lose. Klaus wurde Professor für Chormusik in Freiburg, Mechthild wurde
     OP-Schwester und heiratete einen Chefarzt, Hartmut war Sonderschullehrer und Wolfgang arbeitet heute in der Bremer Schulverwaltung.
     Manchmal versuchte meine Großmutter auf Familientagen so etwas wie Gemeinsamkeit zu erzeugen, und sei es nur, damit sie ihren
     Freundinnen davon erzählen konnte. Ihre Enkel besuchte sie selten. 1991 zog sie zu ihrem Sohn Hartmut auf einen Bauernhof
     in der Nähe von Bremen. 1993 starb sie und ich bin nicht sicher, ob meine Mutter nicht doch mehr über dieses Leben und diesen
     Tod nachdachte, als sie geahnt hatte.
    Langsam wurde mir kalt. Die Isar war der Fluss meiner Kindheit. Durch den Park hindurch konnte ich sie vom Balkon aus gut
     sehen, jetzt, wo die Bäume keine Blätter mehr trugen. Sie floss von rechts nach links, von Nirgendwo nach Nirgendwo.
    Ich ging hinein und schloss die Balkontür leise hinter mir. Der Kopf meiner Mutter war zur Seite gerutscht. Sie hatte die
     Augen geschlossen. Es war eine andere Wandals zu Hause, kein Wal, dem sie zuschauen konnte, wie er langsam verschwand.

    Krebs zehrt einen aus, Krebs nimmt einen langsam weg. Was Krebs ist, habe ich erst wirklich verstanden, als ich meine Mutter
     zum Punktieren begleitete. Ich ging neben ihr her und hielt ihre Hand, während sie im Bett lag und den Gang entlanggeschoben
     wurde. Das Behandlungszimmer war groß und ich setzte mich auf einen Stuhl an der Wand, möglichst weit weg von ihr. Sie konnte
     mich sehen, wenn sie wollte. Aber ich musste nicht sehen, was ich nicht wollte.
    Ich schaute dann doch kurz hin, sah meine Mutter kaum, sah dafür das, was an ihrer Brust wucherte, rötlich, tödlich, was das
     Leben fraß, gierig und gemein.
    Sie hatte sich zur Seite gerollt, ich sah ihren Körper und sah nicht die Frau, die meine Mutter war. Ich sah eine kranke Frau,
     die mir fremd war. Als sie ihr Nachthemd angezogen hatte, ging es wieder.
    Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer schaute sie zur Seite, ich schaute zu ihr herunter, sie sagte nichts, sie hatte so lange
     gekämpft, dass ein Ende auf gewisse Weise gar nicht vorstellbar war. Und jetzt umso unausweichlicher wurde.
    Wir saßen im Zimmer und wussten, dass die Zeit wertvoll war. Wir saßen im Zimmer und sagten nicht viel und schwiegen dann,
     zusammen.
    Wie man die Blicke der Krankenschwestern sucht und vermeidet. Wie man den Mann, der das Bett schiebt, anschaut und sich dafür
     interessiert, was einen nicht interessiert, seine müden Augen zum Beispiel oder die Frage, was so jemand wohl nach der Arbeit
     macht. Wie man auf den Arzt wartet, der kommt und auch nichts weiß. Wie man sich selbst sagt, dass das eben so ist. Wie es
     nicht leicht ist, immer hoffnungsvoll zu sein und gut gelaunt und sensibel und still und unterhaltend und still und zuhörend
     und still und hoffnungsvoll. Wie das Zimmer da ist, stärker, als es sein müsste. Wie man Gast ist, ausgeliefert, angewiesen
     auf andere, wie sonst nie. Wie die Krankheit die Tage bestimmt, die Tage der Chemotherapie, die Tage danach, die Tage der
     Erholung, die Tage der Tests, die Tage des Wartens, die Tage der Ergebnisse, die Tage der Hoffnung, die Tage der Erschöpfung
     und der Verzweiflung. Wie man immer allein ist, sie, die Kranke, ich, der Sohn. Wie man es mal vergisst und doch nicht vergessen
     kann. Wie man sich schämt, weil man es doch vergessen hat. Wie ich dasitze und weiß, dass das Ende kommt, und nicht weiß,
     nicht mal ahne, wie es ist, wie es sein wird, jetzt ist sie noch da, bald wird sie nicht mehr da sein, wie wird das sein,
     ohne sie?
    Wie geht das?
    Es ist so ruhig im Krankenhaus, so trügerisch. Den Tod hört man nicht, es wäre besser, er würde sich mit Lärm oder mit Schreien
     ankündigen. Die langen Gänge, die Türen, die Stille dahinter. Das, was vergeht.Das Normale am Schrecken ist das eigentlich Verwirrende.

    Ich sitze an ihrem Bett und füttere sie, wie man ein Kind füttert. Ich halte ihren Kopf mit der linken Hand, ganz sacht, damit
     sie sich nicht so anstrengen muss. Ich habe ihr geholfen, sich aufzusetzen, ich habe sie mit der einen Hand um den Rücken
     gefasst

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