Der Tod meiner Schwester
Sommer, als ich zwölf Jahre alt war, verbrachte ich eine geradezu idyllische Kindheit. Das Schuljahr über wohnten wir in Westfield, einer Stadt, die alles bot, was ich mir wünschen konnte, und eine gute Busverbindung nach New York hatte, wo meine Eltern mit meinen Schwestern und mir öfter in den Zoo, ins Historische Museum oder zu einer Broadway-Aufführung gingen. Meine Eltern waren gebildet, gut erzogen und liebevoll, und meine viel zu nachsichtigen Großeltern mütterlicherseits, Grandma und Grandpop Foley, wohnten nebenan. Ihr Haus stand uns ebenso offen wie unser eigenes.
Ich war ein fantasievolles Kind – zu fantasievoll, wie einige meiner Lehrer fanden – und dachte mir für mich und meine Freunde gerne Abenteuer aus. Ich erfand Geschichten über merkwürdige Ereignisse in der Nachbarschaft: Die alte Dame an der Ecke war eine Zauberin, ich hatte einen Freund in einer anderen Stadt, man hatte mich als Säugling verlassen vor der Tür meiner Eltern gefunden. Den Kindern in meiner Klasse erzählte ich, dass man im Mindowaskin Park in der Nähe unserer Häuser Wölfe gesichtet hätte. Ich schrieb gerne kleine Stücke, um sie in unserer Garage aufzuführen, und Gedichte, die ich meinen Klassenkameraden vortrug.
Meine Mutter war bei meinen Freunden beliebt, weil sie unsere Anstrengungen sehr ernst nahm. Sie malte Bühnenbilder und nähte Vorhänge für die improvisierte Bühne, auf der wir die Stücke aufführten, und sie ließ mich mit meinen Lügengeschichten gewähren, solange ich den Nachbarkindern nicht allzu viel Angst einflößte.
Mein Vater war Arzt und hatte viele Termine, doch er nahm sich Zeit für meine Schwestern und mich. Obwohl er wegen einer Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg hinkte, ging er dennoch mit uns Rodeln, Eislaufen oder Bowlen. Meine Welt war sicher, schön und geborgen.
Die Dinge begannen schwieriger zu werden, als Isabel fünfzehn wurde. Sie wollte mit ihren Freunden zusammen sein statt mit der Familie, und sie wollte zu Partys gehen, die meine Eltern nicht billigten. Sie verhielt sich gemein mir gegenüber und behandelte mich plötzlich wie eine Bürde. Sie wollte mich nicht länger um sich haben und sprach kaum mit mir, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen war. Im Rückblick gesehen war ihre Rebellion ziemlich zahm. Während mein Vater noch immer zu glauben schien, dass seine älteste Tochter über Wasser laufen konnte, bekam meine Mutter die volle Wucht ihres feindseligen Verhaltens ab. Das Schlimmste war, dass meine Eltern in dem Sommer, in dem Isabel siebzehn war, begonnen hatten, sich darüber zu streiten, wie man am besten mit ihr umging. Niemals zuvor hatte ich böse Worte zwischen ihnen gehört, und ihr Zwist beunruhigte mich.
Während des gesamten Schuljahrs sehnte ich mich nach dem Sommerbungalow meiner Großeltern unten am Ufer des Kanals von Point Pleasant. Er gehörte zu der kleinen Strandgemeinde Bay Head Shores, das nur eine Autostunde von Westfield entfernt lag und doch wie in einer anderen Welt schien. 1962 kamen wir wenige Tage nach Schulende beim Bungalow an. Wir fuhren zusammen mit unseren Großeltern, die unser Boot im Schlepptau ihres schwarzen Studebaker transportierten. Lucy, meine Mutter und ich folgten im Chrysler, und Dad und Isabel bildeten in dem knallgelben Lark Cabrio die Nachhut. Alle taten so, als ob Isabel mit Dad fuhr, um in dem offenen Wagen schon mal braun zu werden, doch ich wusste, dass sie und meine Mutter sich mal wieder in den Haaren lagen und dass es für alle Beteiligten friedlicher war, wenn sie bei Dad mitfuhr.
Lucy, die damals acht Jahre alt war, liebte Bücher ebenso sehr wie ich, doch sie konnte im Auto nicht lesen, ohne dass ihr schlecht wurde. Ihr Hang zur Reisekrankheit machte es außerdem erforderlich, dass sie im Chrysler vorne neben Mom saß, was mir nur zugutekam. Ich lümmelte zwischen Koffern und Kissen auf dem Rücksitz und las das Nancy-Drew-Abenteuer
Das Geheimnis der Red Gate Farm
, das ich schon einmal gelesen hatte. Ich kannte alle Nancy-Drew-Romane und arbeitete mich systematisch noch einmal durch alle hindurch. Ich tat immer gern so, als sei ich selbst Nancy Drew, die Detektivin. Einige Monate zuvor hatte ich angefangen, alle Dinge zu sammeln, die ich im Garten oder in der Nachbarschaft so fand. Ich hatte einen Handschuh im Rinnstein gefunden, eine Geldklammer auf dem Gehweg und – zum Entsetzen meiner Mutter – einen Büstenhalter, den ich im Wäldchen hinter dem Haus einer Freundin entdeckt hatte. All
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