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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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die neue Regelung wie er. Ich konnte mir nicht vorstellen, den Schulunterricht morgens ohne das übliche Gebet zu beginnen. Also ließen wir meinem Vater die nötige Zeit, damit er sich im Wohnzimmer neben dem Wandtelefon mit seinem Schreibblock niederlassen und seine Anrufe erledigen konnte, bei denen er seine Stimme manchmal vor Zorn erhob.
    Die vier Chapmans waren bei unserer Ankunft gerade alle im Garten. Meine Mutter und meine Schwestern liefen hinüber, um sie zu begrüßen, doch ich ging außerhalb des Maschendrahtzauns zur Spundwand, wo ich mich hinsetzte. In meinem Schoß hatte ich ein Buch, und meine Füße baumelten nur wenige Zentimeter über dem Wasser. Obwohl ich nicht in seine Richtung sah, ahnte ich, dass Ethan mich beobachtete. Ich konnte mir vorstellen, wie er auf einem der Stühle saß, seine Beine hin und her schwingen ließ und wie seine Flipflops von seinen Füßen baumelten. Ethan und ich waren einmal dicke Ferienfreunde gewesen. Wir fuhren mit dem Rad zu dem kleinen Strand von Bay Head Shores, angelten zusammen und kletterten auf Bäume. Wir hatten sogar jeweils bei dem anderen übernachtet. Wir waren am gleichen Tag geboren – am 10. März 1950 – und dachten, das würde ein lebenslanges Band zwischen uns knüpfen. Doch im letzten Sommer waren wir uns fremd geworden, wie es zwischen Jungen und Mädchen oft vorkommt, wenn sie älter werden. Unser Auseinanderdriften schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, als ob man uns beiden zur gleichen Zeit nahegelegt hätte, einander zu meiden. In meinen Augen war er einfach merkwürdig geworden. Er hatte eine große Faszination für Meerestiere entwickelt und untersuchte alles, was er finden konnte – Krabben, Kugelfische, Aale, Seesterne und auch winzige Garnelen, die sich dicht unter der Wasseroberfläche an die Spundwand klammerten. Ich war froh, dass meine Mutter mich nicht zwang, hinüberzugehen und ihn zu begrüßen.
    Das Abendessen – Großmutters Spaghetti mit Hackbällchen in Tomatensauce – nahmen wir auf der mit Fliegengitter geschützten Veranda ein wie immer. Der riesige Tisch, der dort an einer Seite stand, war das Zentrum sämtlichen Treibens im Haus – dort wurde gegessen, Karten gespielt und gepuzzelt. Nach dem Essen halfen meine Schwestern und ich Mom beim Abwaschen. Ich war glücklich, weil zwei lange Monate voller Freiheit vor mir lagen. Lucy allerdings fühlte sich nicht frei, sondern hatte Angst.
    “Du gehst doch heute Abend mit mir nach oben ins Bett, Julie, oder?”, fragte sie, als sie das Besteck abtrocknete. Ich musste zusammen mit ihr ins Bett gehen, damit sie auf dem Dachboden nicht allein war. Der Zeitpunkt war ein Kompromiss zwischen ihrer frühen Bettgehzeit und meiner späteren.
    Ich blickte zu meiner Mutter. “Ich möchte diesen Sommer länger aufbleiben, Mom”, bettelte ich. “Ich bin jetzt
zwölf
.”
    “Du gehst zur gleichen Zeit wie Lucy”, erwiderte meine Mutter. Dann zog sie mich zur Seite und flüsterte mir ins Ohr: “Geh mit ihr hoch und warte, bis sie einschläft. Dann kannst du wieder runterkommen.”
    “Lucy muss erwachsen werden”, mischte sich Isabel ein, die einen Teller abtrocknete. “Sie wird ihre Ängste niemals überwinden, wenn ihr sie verhätschelt.”
    “Hilfreicher als deine Kritik”, gab meine Mutter zu bedenken, “wäre das Angebot, ab und zu mit Lucy hochzugehen, damit Julie das nicht immer machen muss.”
    “Gerne”, schnappte Isabel. “Dann erzähle ich ihr Gespenstergeschichten.”
    Mom wischte gerade die Arbeitsfläche und hielt inne, um Isabel anzusehen. “Wann bist du nur so gemein geworden?”, fragte sie und wandte sich ab. Ich bemerkte den Ausdruck von Reue in Isabels Gesicht, den sie rasch mit einem Grinsen überdeckte. Meine Schwester war nicht so hart, wie sie vorgab.
    Ich begriff allmählich, dass Isabel sehr schön war – und dass sie das wusste. Sie konnte jeden, allen voran unseren Vater, um den Finger wickeln, indem sie einen Schmollmund zog oder Tränen in ihren Augen schimmern ließ. Ihre dunklen Augen waren wunderschön, die Wimpern so lang und dicht, dass sie fast unecht wirkten. Über ihr Haar beklagte sie sich ständig. Es sei zu wellig. Zu dick. Zu dunkel. Doch diese Klagen waren reine Koketterie; sie wusste, dass sie von jedem anderen Mädchen in ihrer Klasse um ihr Haar beneidet wurde. Sie hatte große Brüste und eine schmale Taille. Die Jungs starrten sie an, wenn wir die Straße entlanggingen, und die Mädchen hatten Angst, dass ihre Freunde sie

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