Der Tod Verhandelt Nicht
mich so wohl wie seit zehn Jahren nicht mehr. Oder vielleicht noch länger. Irgendetwas hat also überlebt, dachte ich. Clara hatte bei unserer Tochter offenbar ganze Arbeit geleistet. Nicht alles, was wir an Schönem geteilt hatten, war verloren gegangen. Aglaja hasste die Reichen und ihre Rituale, die bis zum Erbrechen in der Klatschpresse und im Fernsehen wiedergekäut wurden.
Es war ein klarer Tag, und die Morgenluft roch noch frisch. Sie war erfüllt vom Duft nach Macchia, nach Zistrosen, Minze und Myrte, den die Feuchtigkeit der Nacht und die Sonne, die inzwischen hoch am Himmel stand, erweckt hatten. Der Geruch nach Harz wehte von den Pinien herüber, die ganz in der Nähe des Strandes wuchsen, dort, wo die Erde zu Sand wurde und Lentisken die Sicht aufs Meer versperrten. Der einsameStrand lag schlummernd da, umfangen von den klaren Grüntönen und der Stille. Hier und dort ragte eine Palme empor und spendete einem Haus Schatten, das wie ein Farbfleck aus der Vegetation herausragte.
Am Strand spürte ich die sanfte Wärme des feinen Sandes unter den Füßen, der von Weitem weiß wie Schnee wirkte. Das Meer mit seinen türkisfarbenen und smaragdgrünen Streifen schien im Licht zu beben; an der breitesten Stelle schimmerte es in Indigo- und Kobaltblau. Es kam mir entgegen wie ein alter Freund, den man nach langer Zeit wiedertrifft. Zu meiner Linken, über den roten Felsen, reckte der Cartucceddu dem Himmel seinen Gipfel entgegen. Der Berg war in das Licht der Sonne getaucht, die sich ihren Weg durch die steinigen Täler und die finsteren undurchdringlichen Steineichenwälder bahnte. Weiter unten, wo der Cartucceddu ins Meer zu stürzen schien, lag der Yachthafen still und verlassen da. Der Strand, der sich über einen Kilometer weit von Nord nach Süd erstreckte, wurde Foxi Manna genannt, die »Große Mündung«.
In der Ferne sah ich das Schilf den Strom umsäumen, der inzwischen kaum mehr als ein Rinnsal war. Ein Rinnsal, das sich im Sand verlor, bis es sich mit dem salzigen Wasser des Meeres vermischte. Im Juli und August war er stets ausgetrocknet, im Juni dagegen führte er wohl noch Wasser. Virgilio hatte mir gesagt, dass das Frühjahr sehr regenreich gewesen sei. Hinter dem Schilf lag der dichte Streifen aus Pappeln und Eukalyptusbäumen, unter denen die Badenden ihre Autos abstellten. Aber auch das passierte nur im Juli und August sowie an den Sonntagen. Jetzt konnte mandie Badegäste an einer Hand abzählen. Der Strand war so gut wie leer.
Deswegen war es leicht, sie zu finden. Ausgestreckt auf einem quietschbunten Handtuch, blickte sie aufs Meer hinaus. Mit beiden Händen hielt sie sich einen aufgeklappten Spiegel vors Gesicht, um die Sonne darauf zu lenken. Während ich mich langsam von hinten näherte, hatte ich genug Zeit, sie eingehend zu betrachten. Ein bemerkenswerter Körper, auf dem die Sonne bereits die Patina einer zarten, mit Geduld und Ausdauer erworbenen Bräune hinterlassen hatte. Der Geduld und Ausdauer von jemandem, der nichts anderes zu tun hatte im Leben. Ihre helle Haut hatte nur einen ganz leichten Bernsteinton, die Sonne würde ihrem blassen Teint wohl nie mehr als eine leichte Färbung schenken. Ich breitete mein Handtuch in etwa zwei Metern Entfernung neben ihr aus, setzte mich und ließ den Blick übers Meer schweifen, als beobachtete ich die Luftspiegelung einer Insel.
Zwischen ihr und mir lag eine Mischung aus Verlegenheit und Staunen, fast so greifbar wie ihre Strohtasche, aus der eine Klatschzeitung herauslugte. Sie trug eine knappe weiße Bikinihose und einen breiten Strohhut, um den sie ein fuchsiafarbenes Tuch gebunden hatte. Das Bikinioberteil war geöffnet, die Träger hingen herab, die Brüste schmiegten sich mit wollüstiger Erhabenheit in die beiden Körbchen und hatten Mühe, sich darin zu verbergen. Sie besaß einen großen, sinnlichen Busen. Ihr Körper wäre ohne die Züchtigung einer eisern eingehaltenen Diät wahrscheinlich längst verblüht.
Ich grüßte freundlich, woraufhin sie mich über die Ränder ihrer Brille hinweg ansah. Ein lebhafter, neugieriger Blick, mit dem sie mich von oben bis unten maß, sodass ich mich ein wenig für meine Touristenblässe schämte. Erst jetzt konnte ich ihre hellbraunen Augen sehen, in deren Winkeln die Zeit gnadenlos Krähenfüße eingraviert hatte. Auf einmal fielen mir auch die kurzen naturroten Haare und die über das ganze Gesicht verteilten Sommersprossen auf. Ihre Züge hatten etwas von einem jungen Mädchen
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