Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
nur trocken und spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht.
Für einen Moment zeigt die Kamera die Decke des Raums. Ist das in unserer Turnhalle? Der Duschraum der Mädchen? Während ich überlege, ändert sich der Ausschnitt erneut. Wieder die beiden Mädchen, der Dampf ist dichter geworden. Von der Seite schiebt sich der nackte Rücken des Mannes vor die Kamera, breitbeinig bewegt er sich auf die Mädchen zu, taucht ein in den Nebel. Drei Schatten im Weiß, Scherenschnitte, die sich aneinander reiben und zu einem verschmelzen. Plötzlich reißt die Szene ab.
Tim klappert hektisch auf der Tastatur, während ich weiterhin gebannt auf den Bildschirm blicke.
»Er ist weg«, sagt Tim und reißt mich aus meiner Starre.
»Weg? Du meinst …«
»Wahrscheinlich hat er seinen Rechner runtergefahren und ist ins Bett gegangen.« Tim dreht sich zu mir um.
»Du hast recht«, sage ich. »Es ist spät. Wir sollten auch schlafen gehen. Sobald er morgen im Netz ist, sehen wir uns an, was er sonst noch für Schätze auf seiner Festplatte hat.«
Der Vollmond quetscht sich durch einen Spalt im Rollo und malt graue Lichtstreifen auf mein Kopfkissen. Ich wälze mich hin und her, habe die Bettdecke weggestrampelt, weil mir unerträglich heiß ist. Bilder tanzen in meinem Kopf, sobald ich die Augen schließe. Ich sehe die Mädchen. Ihre Gesichter, im Film waren es nur undeutliche Flächen im Wasserdampf, in meinem Kopf aber haben sie Münder, weit aufgerissen zu einem tonlosen Schrei, und Augen, die mich anstarren, voll Verzweiflung und Angst.
Plötzlich schießt ein Gedanke durch meinen Kopf. Was ist, wenn Lahmann alle Verbindungen seines Rechners protokolliert und vielleicht schon morgen bemerkt, dass jemand eingedrungen ist?
Abrupt setze ich mich im Bett auf. Natürlich, er würde sofort alles löschen, und wir hätten keine Beweise. Ich springe aus dem Bett, greife Hose und T-Shirt vom Boden.
Im Flur höre ich ruhige Atemzüge aus dem Zimmer meines Bruders. Ich werde ihn nicht wecken. Tim wäre mir jetzt keine große Hilfe. Schade, dass Peter heute nicht dabei war, der wüsste genau, was zu tun ist.
Draußen schnappe ich mir mein Fahrrad. Während ich über menschenleere Bürgersteige rase, wächst die Wut in meinem Bauch mit jedem Pedaltritt. Lahmann bewohnt ein großes Haus am Rande des Neubaugebiets. Ganz allein, keine Familie. Jetzt verstehe ich auch warum.
Das Einfamilienhaus ist dunkel. Ich habe mein Fahrrad an der Straßenecke in ein Gebüsch gezerrt und bin die letzten Meter gelaufen. Meine Finger tasten nach dem Griff des Gartentors. Ich zögere. Was will ich eigentlich hier? Lahmanns Computer finden, mitnehmen, klar – und dann? Zur nächsten Polizeiwache marschieren, den PC anwerfen und sagen: »Hier ist der Beweis. Verhaften Sie unseren Lehrer!« Ehrlich, ich weiß es nicht. Unsicher geworden ziehe ich meine Hand langsam vom Toröffner zurück, sehe, dass sie zittert.
Moritz, du bist jetzt 16, sage ich mir. In zwei Jahren machst du Abi. Irgendwann musst du Verantwortung übernehmen. So ein Typ darf kein Lehrer sein, der gehört in den Knast. Diese Mädchen, sie könnten auch deine kleinen Schwestern sein. Wer weiß, was er in Zukunft noch machen wird, wenn du nichts unternimmst. Ich schließe kurz die Augen, sehe den Duschraum wieder vor mir, die schmalen Körper im Nebel und Lahmanns dreckiges Grinsen. Das reicht. Ich entriegle das Tor und schlüpfe in den Vorgarten.
Die schwüle Sommernacht ist mein Verbündeter. Die Terrassentür ist nur gekippt. Da ich öfter den Schlüssel zum Haus meiner Eltern vergesse, kenne ich Tricks aus dem Internet, wie man so eine Tür ohne spezielles Werkzeug lautlos öffnen kann. Das Mondlicht wird durch die hohen Bäume im Garten abgeschwächt, trotzdem finde ich mich im Wohnzimmer gut zurecht. Kein Computer. Sicher hat er ein Arbeitszimmer, überlege ich, schleiche in den Flur und probiere die erste Tür. Bingo! Auf dem Schreibtisch vor der Fensterwand zeichnet sich die charakteristische Form eines aufgeklappten Laptops ab.
Ohne lange nachzudenken, entferne ich die Anschlusskabel, drücke den Deckel herunter und klemme mir das Gerät unter den Arm. Die Angst hat sich für einen Moment verflüchtigt. Ich fühle mich stolz und seltsam euphorisch. In diesem Augenblick höre ich das Geräusch. Dicht hinter mir. Die wenigen Sekunden Unaufmerksamkeit haben gereicht. Da ist jemand in meinem Rücken. Eindeutig. Ich drehe mich um.
Der Schlag erwischt mich nicht voll. Erst später
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