Der Tod wartet
einzige Chance Ihres Mannes, glücklich zu werden, darin bestand, sich von seiner Familie frei zu machen – seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn dieses Leben Mühsal und Entbehrung bedeutete. Sie waren bereit, jedes Risiko einzugehen, und Sie versuchten alles, um ihn dazu zu bringen, diesen Weg einzuschlagen. Aber Sie scheiterten, Madame. Lennox Boynton besaß nicht mehr den Willen, frei zu sein. Er war es zufrieden, in Apathie und Melancholie zu versinken.
Ich habe jedoch nicht den geringsten Zweifel, Madame, dass Sie Ihren Gatten lieben. Ihr Entschluss, ihn zu verlassen, wurde nicht durch eine größere Liebe zu einem anderen Mann ausgelöst. Es war wohl eher ein verzweifelter Versuch, die letzte Karte, auf die Sie Ihre Hoffnung setzten. Eine Frau in Ihrer Situation konnte nur drei Dinge tun. Sie konnte es mit Bitten versuchen. Das fruchtete nichts, wie ich bereits sagte. Sie konnte ihrem Mann drohen, ihn zu verlassen. Aber es ist möglich, dass selbst diese Drohung ihre Wirkung bei Lennox Boynton verfehlt hätte, dass sie ihn nur noch elender machen, jedoch nicht veranlassen würde, sich aufzulehnen. Aber es gab noch einen letzten, verzweifelten Schritt. Sie konnten mit einem anderen Mann fortgehen. Eifersucht und Besitztrieb gehören zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen. Sie bewiesen Ihre Klugheit, indem Sie versuchten, an diesen wilden Urinstinkt zu appellieren. Wenn Lennox Boynton Sie widerspruchslos zu einem anderen Mann gehen ließ – dann war ihm in der Tat nicht mehr zu helfen, dann konnten Sie ebenso gut versuchen, mit einem anderen ein neues Leben zu beginnen.
Aber nehmen wir einmal an, dass selbst dieses letzte, desperate Mittel versagte. Ihr Mann war schrecklich bestürzt über Ihren Entschluss, aber er reagierte trotzdem nicht so, wie Sie gehofft hatten und wie ein primitiver Mensch reagiert hätte, nämlich mit einem Ausbruch von Besitzgier. Gab es überhaupt etwas, um Ihren Mann vor dem rapide fortschreitenden geistigen Verfall zu retten? Es gab nur eins. Wenn seine Stiefmutter tot wäre, dann wäre es vielleicht noch nicht zu spät. Dann könnte es ihm gelingen, als freier Mann ein neues Leben anzufangen, seine Selbstständigkeit und Männlichkeit wiederzugewinnen.»
Poirot schwieg einen Moment und sagte dann noch einmal: «Wenn seine Stiefmutter tot wäre…»
Nadines Augen waren noch immer auf Poirot gerichtet. Mit unbewegter, ruhiger Stimme sagte sie: «Sie wollen damit andeuten, dass ich mithalf, ihren Tod herbeizuführen? Aber das können Sie nicht, Monsieur Poirot. Nachdem ich Mrs Boynton meine bevorstehende Abreise mitgeteilt hatte, ging ich direkt ins Gemeinschaftszelt zu Lennox. Und ich habe das Zelt erst wieder verlassen, nachdem meine Schwiegermutter tot aufgefunden worden war. Ich mag in gewissem Sinn an ihrem Tod schuld sein, weil ich ihr einen Schock versetzte – was wiederum bedeuten würde, dass sie eines natürlichen Todes starb. Wenn sie aber, wie Sie behaupten, vorsätzlich ermordet wurde – wofür Sie bislang keine Beweise haben und auch nicht haben können, bevor eine Autopsie stattgefunden hat –, dann hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit, die Tat zu begehen.»
«Sie haben also», sagte Poirot, «das Gemeinschaftszelt nicht mehr verlassen, bis Ihre Schwiegermutter tot aufgefunden wurde. Das haben Sie gerade gesagt. Und das, Mrs Boynton, war einer der Punkte, die ich an diesem Fall merkwürdig fand.»
«Wie meinen Sie das?»
«Er steht hier auf meiner Liste. Punkt neun. Um halb sieben, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener geschickt, um Mrs Boynton Bescheid zu sagen.»
«Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen», warf Raymond ein.
«Ich auch nicht», sagte Carol.
Poirot blickte vom einen zum anderen.
«Nein? Ein Diener wurde geschickt – warum ein Diener? Waren Sie, Sie alle hier, in der Regel nicht immer höchst beflissen und besorgt um die alte Dame? Geleitete sie nicht stets der eine oder andere von Ihnen zu den Mahlzeiten? Sie war gebrechlich. Sie hatte Probleme, sich ohne fremde Hilfe vom Stuhl zu erheben. Immer war der eine oder andere von Ihnen an ihrer Seite. Ich behaupte daher, dass es die natürlichste Sache von der Welt gewesen wäre, wenn jemand von der Familie sich zu ihr begeben und ihr geholfen hätte, als das Abendessen fertig war. Aber keiner von Ihnen machte Anstalten, sie zu holen. Sie alle saßen da wie gelähmt, beobachteten einander und wunderten sich vielleicht, warum niemand zu ihr ging.»
Nadine
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