Der Tod wartet
kann, weil zu dem einzigen Zeitpunkt, zu dem er an jenem Nachmittag nachweislich seine Mutter aufsuchte, diese bereits seit geraumer Zeit tot war. Wenn wir also annehmen, dass Raymond Boynton u n schuldig ist, wie können wir dann sein Verhalten erklären?
Ich behaupte: Unter der Voraussetzung, dass er unschuldig ist, können wir es! Denn ich erinnere mich an die Worte, die ich zufällig hörte. ‹ Du siehst doch ein, dass sie sterben muss? › Er kommt zurück von seinem Spaziergang und findet sie tot vor, und sein schuldbewusster Geist denkt sofort an eine ganz bestimmte Möglichkeit. Der Plan wurde ausgeführt – nicht von ihm, sondern von seiner Mitwisserin. Tout simplement, er hat den Verdacht, dass seine Schwester Carol die Tat begangen hat.»
«Das ist eine Lüge», sagte Raymond leise mit zitternder Stimme.
«Betrachten wir nun die Möglichkeit», fuhr Poirot fort, «dass Carol Boynton die Mörderin ist. Welche Indizien sprechen gegen sie? Sie hat das gleiche reizbare Temperament – die Art von Temperament, die in einer solchen Tat vielleicht etwas Heroisches sieht. Es war sie, mit der Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Carol Boynton kehrte zehn Minuten nach fünf ins Camp zurück. Ihrer eigenen Aussage zufolge ging sie hinauf zu ihrer Mutter und sprach mit ihr. Aber niemand hat sie dort gesehen. Das Camp war verlassen – die Boys schliefen. Lady Westholme, Miss Pierce und Mr Cope erkundeten Höhlen außer Sichtweite des Camps. Niemand kann Carol Boyntons Aussage bezeugen. Der Zeitpunkt würde sehr wohl passen. Die Tatsachen sprechen also für eine Täterschaft von Carol Boynton.» Er hielt inne. Carol hatte den Kopf gehoben. Ihre Augen blickten Poirot unverwandt und bekümmert an.
«Es gibt noch einen weiteren Punkt. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, wurde Carol Boynton dabei beobachtet, wie sie etwas in das Wadi warf. Es besteht Grund zu der Annahme, dass dieses Etwas eine Spritze war.»
« Comment? » Dr. Gérard blickte überrascht auf. «Aber meine Spritze wurde zurückgebracht. Ja, ja, ich habe sie wieder!»
Poirot nickte nachdrücklich.
«Gewiss, gewiss. Diese zweite Spritze – sie ist sehr merkwürdig, sehr interessant. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass diese Spritze Miss King gehörte. Ist das richtig?»
Sarah zögerte den Bruchteil einer Sekunde.
Carol war schneller. «Es war nicht Miss Kings Spritze», sagte sie. «Es war meine.»
«Dann geben Sie zu, sie weggeworfen zu haben, Mademoiselle?»
Sie zauderte kaum merklich: «Ja, natürlich. Warum sollte ich es nicht zugeben?»
«Carol!» Es war Nadine. Sie beugte sich vor und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen besorgt an. «Carol… Ich verstehe das nicht…»
Carol drehte sich um und sah sie an. Ihr Blick hatte etwas Feindseliges.
«Was gibt es da zu verstehen? Ich habe eine alte Spritze weggeworfen. Das Gift – habe ich nicht angerührt.»
Sarah mischte sich ein: «Was Miss Pierce Ihnen erzählt hat, ist die Wahrheit, Monsieur Poirot. Es war meine Spritze.»
Poirot lächelte.
«Sie ist sehr verwirrend, diese Sache mit der Spritze – dennoch glaube ich, dass sie sich erklären lässt. Alors, wir haben somit triftige Gründe für zwei Dinge – triftige Gründe für die Unschuld von Raymond Boynton und triftige Gründe für die Schuld seiner Schwester Carol. Aber ich, ich bin immer sehr gewissenhaft und unparteiisch. Ich betrachte stets beide Seiten. Untersuchen wir nun, was sich ereignete, falls Carol Boynton unschuldig ist.
Sie kehrt zurück ins Camp, sie geht hinauf zu ihrer Stiefmutter und stellt fest, dass sie – sagen wir – tot ist. Was ist das Erste, was sie denkt? Sie muss annehmen, dass ihr Bruder Raymond sie getötet hat. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Also sagt sie nichts. Und bald darauf, etwa eine Stunde später, kommt Raymond Boynton zurück, und da er angeblich mit seiner Mutter gesprochen hat, sagt er kein Wort davon, dass etwas nicht stimmt. Meinen Sie nicht, dass Carol Boyntons Verdacht daraufhin zur Gewissheit wird? Vielleicht geht sie in sein Zelt und findet dort eine Spritze. Und dann hat sie den Beweis! Sie nimmt die Spritze unverzüglich an sich und versteckt sie. Am nächsten Morgen wirft sie sie in aller Frühe weg, so weit sie kann.
Es gibt noch einen weiteren Hinweis, dass Carol Boynton unschuldig ist. Als ich sie befrage, versichert sie mir, dass sie und ihr Bruder nie ernsthaft vorhatten, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ich bitte sie, es mir zu schwören
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