Der Tod wartet
Ich nehme an, sie befindet sich noch immer in Miss Kings Besitz.»
«So ist es», sagte Sarah.
«Folglich haben Sie, als Sie vorhin sagten, sie gehöre Ihnen, etwas getan, was sie angeblich nicht tun – Sie haben gelogen.»
«Das ist etwas anderes», sagte Sarah ruhig. «Hier geht es nicht um eine – eine berufliche Lüge.»
Gérard nickte beifällig.
«Ja, das ist ein Argument, in der Tat. Ich verstehe Sie vollkommen, Mademoiselle.»
«Danke», sagte Sarah.
Wieder räusperte sich Poirot.
«Wenden wir uns nun der Zeittabelle zu. Alors:
15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp.
15.15(ca.): Dr. Gérard und Sarah King verlassen das Camp.
16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp.
16.20 (ca.): Dr . Gérard kommt zurück ins Camp.
16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp.
16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs Boynton.
16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt.
17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp.
17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr Jefferson Cope kommen zurück ins Camp.
1 7.50: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp.
18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp.
18.30: Die Tote wird entdeckt.
Sie werden bemerken, dass es eine Lücke von zwanzig Minuten gibt zwischen 16.50 Uhr, als Nadine Boynton ihre Schwiegermutter verließ, und 17.10 Uhr, als Carol zurückkam. Wenn Carol also die Wahrheit sagt, dann muss Mrs Boynton in diesen zwanzig Minuten ermordet worden sein.
Aber wer könnte sie getötet haben? Miss King und Raymond Boynton waren zu der Zeit zusammen. Mr Cope, der allerdings kein erkennbares Motiv für die Tat hat, besitzt ein Alibi. Er hielt sich bei Lady Westholme und Miss Pierce auf. Lennox Boynton war mit seiner Frau im Gemeinschaftszelt. Dr. Gérard lag stöhnend mit Fieber in seinem Zelt. Das Camp ist verlassen, die Boys schlafen. Der Moment für ein Verbrechen ist günstig! Gab es eine Person, die es hätte verüben können?»
Sein Blick wanderte nachdenklich zu Ginevra Boynton.
« Es gab tatsächlich eine solche Person. Ginevra Boynton war den ganzen Nachmittag in ihrem Zelt. Das wurde uns jedenfalls gesagt – aber es besteht Grund zu der Annahme, dass sie sich nicht die ganze Zeit in ihrem Zelt aufhielt. Ginevra Boynton machte eine sehr aufschlussreiche Bemerkung. Sie sagte, dass Dr. Gérard im Fieber ihren Namen sprach. Und Dr. Gérard hat uns erzählt, dass er in seinen Fieberträumen Ginevra Boyntons Gesicht sah. Aber das war kein Traum! Es war tatsächlich sie, die er neben seinem Bett stehen sah. Er hielt es für einen Fieberwahn – aber es war Realität. Ginevra war in Dr. Gérards Zelt. Ist es nicht möglich, dass sie gekommen war, um die Spritze zurückzubringen, nachdem sie sie benutzt hatte?»
Ginevra Boynton hob den Kopf mit dem Kranz aus rotblondem Haar. Ihre schönen großen Augen, die noch ausdrucksloser als sonst waren, starrten Poirot an. Sie wirkte wie eine entrückte Heilige.
« Ah, ca non! » , rief Dr. Gérard aus.
«Ist es psychologisch denn so unmöglich?», erkundigte sich Poirot.
Der Franzose blickte zu Boden.
Nadine Boynton sagte scharf: «Ausgeschlossen!»
Poirot sah sie schnell an. «Ausgeschlossen, Madame?»
«Ja.» Sie hielt inne, biss sich auf die Lippen und fuhr dann fort: «Ich werde mir eine derart schändliche Beschuldigung meiner Schwägerin nicht anhören. Wir – wir alle wissen, dass das völlig unmöglich ist.»
Ginevra bewegte sich auf ihrem Stuhl. Ihr Mund entspannte sich zu einem Lächeln – dem anrührenden, unschuldigen, halb unbewussten Lächeln eines noch sehr jungen Mädchens.
Nadine sagte noch einmal: «Völlig unmöglich!»
Ihr sanftes Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Der Blick, mit dem sie Poirot ansah, war hart und unnachgiebig.
Poirot deutete eine leichte Verbeugung an.
«Madame ist sehr intelligent», sagte er.
«Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot?», fragte Nadine ruhig.
«Ich will damit sagen, Madame, dass ich gleich bemerkt habe, dass Sie ein ‹helles Köpfchen› sind, wie man so schön sagt.»
«Sie schmeicheln mir.»
«Ich glaube nicht. Sie haben die Situation die ganze Zeit ruhig und im Ganzen gesehen. Nach außen hin blieben Sie mit Ihrer Schwiegermutter auf gutem Fuß, weil Sie das für das Beste hielten, aber in Ihrem Inneren haben Sie über sie gerichtet und sie verurteilt. Ich glaube, Sie erkannten schon vor geraumer Zeit, dass die
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