Der Tod wartet
Sie können mir helfen!»
«Ruhig, Kind, ganz ruhig.» Der Arzt tätschelte ihr begütigend den Kopf. Dann wandte er sich an Poirot:
«Was Sie da sagen, ist völliger Unsinn. Absurd!»
«Verfolgungswahn?», fragte Poirot leise.
«Ja. Aber sie hätte nie und nimmer so methodisch vorgehen können. Sie hätte ein dramatischeres Mittel gewählt, verstehen Sie? Einen Dolch – irgendetwas Extravagantes, Spektakuläres –, aber niemals diese kaltblütige, besonnene Logik! Ich versichere Ihnen, meine Freunde, es ist so. Dieses Verbrechen war wohl durchdacht – geplant von einem kühlen Verstand.»
Poirot lächelte. Dann verbeugte er sich unvermittelt. « Je suis entièrement de votre avis » , sagte er verbindlich.
Achtzehntes Kapitel
« M achen wir weiter», sagte Hercule Poirot, «wir sind noch nicht am Ende angelangt! Dr. Gérard hat die Psychologie angesprochen. Darum wollen wir nun die psychologische Seite dieses Falles untersuchen. Wir haben die Fakten ermittelt, wir haben den zeitlichen Ablauf der Ereignisse festgelegt, wir haben das Beweismaterial gehört. Bleibt noch – die Psychologie. Und der wichtigste psychologische Aspekt betrifft die Tote selbst – denn die Persönlichkeit von Mrs Boynton ist in diesem Fall von ausschlaggebender Bedeutung.
Nehmen wir Punkt drei und vier meiner Liste der Fakten. Es machte Mrs Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hi n dern, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Mrs Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag einen Sp a ziergang zu machen und sie allein zu lassen.
Aber diese beiden Punkte widersprechen sich eklatant! Warum sollte sich Mrs Boynton ausgerechnet an diesem Nachmittag so völlig wider ihre Natur verhalten? Hatte sie plötzlich ein weiches Herz – den Drang, gütig zu sein? Das erscheint mir, nach allem, was ich gehört habe, höchst unwahrscheinlich! Es muss also einen Grund dafür gegeben haben. Aber welchen?
Betrachten wir den Charakter von Mrs Boynton etwas genauer. Es gibt sehr unterschiedliche Aussagen über sie. Sie war eine tyrannische, rücksichtslose alte Frau – sie war eine Sadistin – sie war die Verkörperung des Bösen – sie war wahnsinnig. Welche dieser Meinungen ist die richtige?
Ich persönlich glaube, dass Sarah King der Wahrheit am nächsten kam, als sie in Jerusalem aufgrund einer jähen Eingebung die alte Dame plötzlich als ein höchst bedauernswertes Wesen sah. Und nicht nur bedauernswert, sondern auch bedeutungslos!
Versetzen wir uns, sofern wir das können, in den Geisteszustand von Mrs Boynton. Eine Frau, geboren mit einem ungeheuren Ehrgeiz, mit dem Drang, andere zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Weder sublimierte sie ihr intensives Verlangen nach Macht, noch versuchte sie es im Zaum zu halten. Nein, Mesdames et Messieurs – sie kultivierte es! Aber letzten Endes – hören Sie gut zu! –, auf was lief es letzten Endes hinaus? Sie war gar keine so große Macht! Sie wurde nicht gefürchtet und gehasst weit und breit! Sie war der kleine Haustyrann einer isolierten Familie! Und wie Dr. Gérard mir sagte, begann sie sich zu langweilen – wie das bei jeder alten Dame und ihrem Zeitvertreib irgendwann der Fall ist. Und so versuchte sie, ihre Aktivitäten auszuweiten und sich einen neuen Kitzel zu verschaffen, indem sie ihre Dominanz anfechtbarer machte! Aber das führte zu einem völlig anderen Resultat! Auf dieser Auslandsreise wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie völlig unbedeutend sie war!
Und damit kommen wir direkt zu Punkt zehn – den Worten, die sie in Jerusalem zu Sarah King sagte. Denn, sehen Sie, Sarah King hatte den Finger auf die Wahrheit gelegt. Sie hatte die jämmerliche Bedeutungslosigkeit von Mrs Boyntons Leben klar und schonungslos enthüllt! Und nun achten Sie einmal darauf, was ihre genauen Worte zu Miss King waren. Miss King zufolge sprach Mrs Boynton ‹ so bösartig – und ohne mich dabei auch nur anz u sehen. › Und ihre genauen Worte waren: ‹ Ich vergesse niemals etwas – keine Handlung keinen Namen, kein Gesicht. ›
Diese Worte hinterließen bei Miss King einen starken Eindruck. Die außergewöhnliche Heftigkeit und der raue, laute Ton, in dem sie gesagt wurden, beeindruckten sie so sehr, dass sie die außerordentliche Bedeutung dieser Worte überhaupt nicht erfasste!
Sie erkennen die wahre Bedeutung dieser Worte?» Er wartete einen Moment. «Offenbar nicht… Aber, mes amis, merken Sie denn nicht, dass diese Worte auf keinen Fall eine vernünftige
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