Der Tod wartet
Platz genommen hatte. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Schwiegermutter. Ihr Gesichtsausdruck blieb absolut gleichmütig, doch der Blick der alten Frau war voller Bosheit.
Dr. Gérard dachte: Was für eine unsägliche alte Tyrannin!
Und dann waren die Augen der alten Frau plötzlich direkt auf ihn geheftet, so dass er jäh den Atem anhielt. Kleine glühende schwarze Augen starrten ihn an, die etwas ausstrahlten, eine Energie, eine starke Kraft, eine Woge hinterlistiger Bösartigkeit. Dr. Gérard wusste um die Macht der Persönlichkeit. Er erkannte, dass es sich hier nicht um eine verwöhnte, tyrannische Kranke handelte, die ihren Launen und Marotten freien Lauf ließ. Diese alte Frau war eine starke Kraft. In der Bösartigkeit ihres starren Blickes spürte er eine Ähnlichkeit mit der Wirkung, die eine Kobra auslöst. Mrs Boynton mochte alt, leidend, für Krankheiten anfällig sein, aber sie war keinesfalls machtlos. Sie war eine Frau, die wusste, was Macht war, die ihr Leben lang Macht ausgeübt und nie auch nur einen Moment an ihrer eigenen Stärke gezweifelt hatte. Dr. Gérard hatte einmal eine Frau kennen gelernt, die außerordentlich gefährliche und spektakuläre Dressurnummern mit Tigern vorführte. Die großen geschmeidigen Raubkatzen waren auf ihre Plätze geschlichen und hatten ihre entwürdigenden und demütigenden Kunststücke gezeigt. In ihren Augen und in ihrem leisen Fauchen lag Hass, erbitterter, fanatischer Hass, aber sie hatten gehorcht, sich geduckt. Die besagte Frau war jung gewesen, eine arrogante dunkelhaarige Schönheit, aber sie hatte den gleichen Blick gehabt.
Une dompteuse, sagte Dr. Gérard bei sich.
Und nun verstand er, was unter der harmlosen Unterhaltung der Familie gebrodelt hatte. Es war Hass – ein dunkler, reißender Strom von Hass.
Er dachte: Die meisten Leute würden mir eine blühende Phantasie bescheinigen! Da genießt eine ganz gewöhnliche, nette amerikanische Familie ihren Aufenthalt in Palästina – und ich spinne mir eine finstere Geschichte zusammen!
Dann musterte er neugierig die stille junge Frau namens Nadine. Sie trug einen Ehering, und während er sie betrachtete, sah er, wie sie dem hellhaarigen, schlaksigen Lennox einen viel sagenden Blick zuwarf. Da verstand er…
Die beiden waren miteinander verheiratet. Aber es war eher der Blick einer Mutter als der einer Ehefrau – ein wahrhaft mütterlicher Blick, fürsorglich, besorgt. Und ihm wurde noch etwas klar. Er erkannte, dass Nadine Boynton die Einzige in der Familie war, die nicht im Banne ihrer Schwiegermutter stand. Sie mochte die alte Frau nicht besonders mögen, aber sie hatte keine Angst vor ihr. Ihre Macht konnte Nadine nichts anhaben.
Sie war unglücklich, in großer Sorge um ihren Mann, aber sie war frei.
Dr. Gérard sagte bei sich: Das ist alles höchst interessant.
Fünftes Kapitel
D r. Gérards düstere Überlegungen wurden abrupt durch etwas ganz Alltägliches unterbrochen.
Ein Mann betrat den Salon, entdeckte die Boyntons und ging auf sie zu. Es war ein sympathischer Amerikaner mittleren Alters und vom Typ her durch und durch konventionell. Er war sorgfältig gekleidet, hatte ein schmales glatt rasiertes Gesicht und eine bedächtige, angenehme, wenn auch etwas eintönige Stimme.
«Ich habe Sie schon überall gesucht», sagte er.
Akribisch schüttelte er der ganzen Familie die Hand. «Und wie fühlen Sie sich heute, Mrs Boynton? Nicht zu müde von der Bahnfahrt?»
Beinahe huldvoll stieß die alte Dame pfeifend hervor: «Nein, danke der Nachfrage. Aber Sie wissen ja, dass es um meine Gesundheit nie gut bestellt ist.»
«Gewiss. Wirklich bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich.»
«Aber es geht mir zumindest nicht schlechter.»
Mit einem bedächtigen heimtückischen Lächeln fügte sie hinzu: «Die gute Nadine kümmert sich hingebungsvoll um mich, nicht wahr, Nadine?»
«Ich tue mein Bestes.» Nadines Stimme war ausdruckslos.
«Na, das glaube ich Ihnen aufs Wort!», sagte der Fremde jovial. «Also, Lennox, was halten Sie von der Stadt König Davids?»
«Ach, ich weiß nicht recht.»
Lennox’ Ton war apathisch, desinteressiert.
«Finden sie wohl etwas enttäuschend, wie? Ich muss gestehen, dass es mir zunächst auch so ging. Aber vielleicht haben Sie nur noch nicht viel davon gesehen?»
Carol Boynton sagte: «Wegen Mutter können wir nicht allzu viel unternehmen.»
Mrs Boynton erläuterte: «Zwei Stunden am Tag sind das Äußerste, was ich mir an Besichtigungen zumuten
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