Der Tod wartet
ich meine. Können sich mit niemand anfreunden. Und das ist schlecht.»
«Sehr schlecht sogar.»
«Ich bezweifle ja nicht, dass Mrs Boynton es gut meinte. Aber sie hat es mit der Fürsorge übertrieben.»
«Leben alle noch zu Hause?», fragte der Arzt.
«Ja.»
«Und die Söhne arbeiten nicht?»
«O nein. Elmer Boynton war ein reicher Mann. Er hinterließ sein gesamtes Vermögen Mrs Boynton auf Lebenszeit – aber es galt natürlich als ausgemacht, dass das Geld für den Lebensunterhalt der Familie ganz allgemein ist.»
«Das heißt, dass alle finanziell von ihr abhängig sind?»
«So ist es. Und sie hat alle darin bestärkt, zu Hause zu bleiben und sich nicht nach einer Arbeit umzusehen. Das mag vielleicht in Ordnung sein, Geld ist ja genug vorhanden, keiner von ihnen muss arbeiten, aber ich finde, dass Arbeit zumindest für einen Mann eine sehr bekömmliche Arznei ist. Und da ist noch etwas: Keiner von ihnen hat irgendwelche Hobbies. Sie spielen nicht Golf. Sie gehören keinem Club an. Sie gehen weder zu Tanzveranstaltungen noch unternehmen sie sonst etwas mit anderen jungen Leuten. Sie leben in einem riesigen Kasten mitten auf dem Land, meilenweit vom nächsten Ort entfernt. Ich sage Ihnen, Dr. Gérard, mir scheint das völlig falsch zu sein.»
«Ich stimme Ihnen zu», sagte Dr. Gérard.
«Keiner von ihnen hat auch nur das geringste gesellschaftliche Bewusstsein. Keinerlei Gemeinsinn – ja, genau das fehlt ihnen! Sie mögen ja ein harmonisches Familienleben führen, aber alle miteinander sind völlig in sich selbst versunken.»
«War nie die Rede davon, dass der eine oder andere von ihnen auf eigenen Füßen stehen wollte?»
«Nicht, dass ich wüsste. Sie hocken einfach nur rum.»
«Geben Sie die Schuld daran den Kindern oder Mrs Boynton?»
Jefferson Cope rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
«Na ja, in gewisser Hinsicht glaube ich schon, dass mehr oder weniger sie dafür verantwortlich ist. Die Art, wie sie sie erzogen hat, war nicht richtig. Trotzdem, wenn ein Bursche erwachsen wird, dann liegt es an ihm, eigene Wege zu gehen. Ein junger Mann sollte nicht dauernd am Rockzipfel seiner Mutter hängen. Er sollte aus eigenem Antrieb unabhängig sein wollen.»
Dr. Gérard sagte nachdenklich: «Vielleicht ist das nicht möglich.»
«Warum nicht?»
«Weil es Mittel und Wege gibt, Mr Cope, einen Baum am Wachsen zu hindern.»
Cope starrte ihn an. «Aber sie sind alle gesund und munter, Dr. Gérard!»
«Der Geist kann ebenso in der Entwicklung gehemmt werden und verkümmern wie der Körper.»
«Auch geistig ist bei ihnen alles in Ordnung.»
Jefferson Cope fuhr fort: «Nein, Dr. Gérard, glauben Sie mir, jeder Mensch hat sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Mann mit Selbstachtung geht seinen eigenen Weg und fängt etwas mit seinem Leben an. Er hockt nicht bloß rum und dreht Däumchen. Vor so einem Mann kann eine Frau doch keine Achtung haben.»
Gérard sah ihn einen Moment lang merkwürdig an. Dann sagte er: «Beziehen sich Ihre Worte insbesondere auf Mr Lennox Boynton?»
«Ja, ich dachte dabei tatsächlich an Lennox. Raymond ist ja fast noch ein Kind. Aber Lennox wird bald dreißig. Höchste Zeit, dass er zeigt, was in ihm steckt.»
«Für seine Frau ist das vermutlich nicht leicht.»
«Ganz bestimmt nicht! Nadine ist ein feiner Mensch. Ich bewundere sie mehr, als ich sagen kann. Sie hat sich noch nie auch nur mit einem Wort beklagt. Aber sie ist nicht glücklich, Dr. Gérard! Unglücklicher als sie kann man gar nicht sein.»
Gérard nickte zustimmend. «Ja, damit könnten Sie Recht haben.»
«Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gérard, aber ich finde, dass alles seine Grenzen hat und dass sich eine Frau nicht mit allem abfinden muss! Wenn ich Nadine wäre, würde ich das Lennox mal unmissverständlich klarmachen. Entweder er reißt sich zusammen und zeigt, aus welchem Holz er geschnitzt ist, oder…»
«Oder aber sie sollte ihn verlassen, wollen Sie sagen?»
«Sie muss auch an sich selbst denken, Dr. Gérard. Wenn Lennox sie nicht so zu schätzen weiß, wie sie es verdient – nun, andere Männer wüssten es.»
«Beispielsweise – Sie selbst?»
Der Amerikaner wurde rot. Dann sah er den anderen mit einer Art stiller Würde offen an.
«Ja», sagte er. «Ich schäme mich meiner Gefühle für Nadine nicht. Ich habe große Achtung vor ihr und bin ihr aufrichtig zugetan. Ich will nur, dass sie glücklich ist. Wenn sie mit Lennox glücklich wäre, würde ich mich
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