Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
und ebenso viele Deutsche - ganz zu schweigen von den Einwanderern aus Puerto Rico und der Dominikanischen Republik, den Polen und den ungezählten, oftmals illegalen chinesischen Arbeitern, die in der gastfreundlichen Stadt Unterschlupf gefunden hatten. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung war in nur acht Jahren um 50 Prozent auf mittlerweile 700 000 gestiegen, und auch die Schwarzen waren Flüchtlinge, geflohen vor dem Rassismus in den Südstaaten. Gut ein Viertel der acht Millionen New Yorker waren Juden, von denen sich viele vor der Katastrophe in Europa hierher in Sicherheit gebracht hatten. 14 Die Schilder vor den Läden und Fabriken in der Lower East Side waren auf Hebräisch beschriftet, und auf den Straßen hörte man häufig Jiddisch. Dies dürfte für den Ägypter in mittleren Jahren, der die Juden hasste, obwohl er bis zu seiner Abreise aus seinem Heimatland noch keinen Juden kennen gelernt hatte, schwer zu ertragen gewesen sein. 15
Für viele New Yorker, vielleicht die meisten, gehörte politische oder wirtschaftliche Unterdrückung zu ihrer Lebensgeschichte. Aber diese Stadt hatte ihnen Zuflucht geboten, sie war der Platz, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen, eine Familie gründen und noch einmal von vorn anfangen konnten. Daher wurde die pulsierende Metropole von einem Gefühl der Hoffnung und der Zuversicht geprägt und vorangetrieben. Kairo hingegen war eine der Hauptstädte der Verzweiflung.
Zugleich war New York aber auch erbärmlich und trostlos - es war überfüllt, düster, durch Konkurrenzkampf bestimmt, frivol und übersät mit Schildern, auf denen es hieß „Alles besetzt“. Schnarchende Betrunkene lagen in den Hauseingängen. Zuhälter und Taschendiebe lungerten im schummerigen Neonlicht von Varietétheatern herum. In der Bowery boten Absteigen Betten für 20 Cent pro Nacht an. Die düsteren Nebenstraßen waren mit Wäscheleinen überspannt. In den Randbezirken streiften Banden umher wie Rudel wilder Hunde. Für jemanden, der nur schlecht Englisch sprach, war die Stadt voller unbekannter Gefahren, und Qutbs natürliche Zurückhaltung erschwerte ihm die Kommunikation obendrein. 16 Unstillbares Heimweh packte ihn. „Hier an diesem fremdartigen Ort, dieser riesigen Werkstatt, die man die ,Neue Welt‘nennt, habe ich das Gefühl, dass meine Seele, mein Geist und mein Körper in völliger Einsamkeit leben“, schrieb er an einen Freund in Kairo. „Am dringendsten brauche ich hier jemanden, mit dem ich reden kann“, schrieb er an einen anderen Freund, „über andere Dinge als über den Dollar, Filmstars oder Automarken - mit dem ich ein echtes Gespräch führen kann über Fragen des Menschseins, über Philosophie und die Seele.“ 17
Zwei Tage nach seiner Ankunft in den USA stieg Qutb zusammen mit einem ägyptischen Bekannten in einem Hotel ab. „Der schwarze Aufzugsjunge mochte uns, weil wir eine ähnliche Hautfarbe hatten wie er“, berichtete Qutb. Der Junge bot den Reisenden an, ihnen etwas „Unterhaltung“zu vermitteln. „Er nannte uns einige Beispiele für diese Art von ‚Unterhaltung‘, wozu auch Abartigkeiten gehörten. So erzählte er uns, was in einigen dieser Räume vor sich ging, in denen sich paarweise Jungen oder Mädchen aufhielten. Sie baten ihn, ihnen ein paar Flaschen Cola zu bringen, und kümmerten sich nicht einmal darum, wenn er eintrat! ‚Haben sie sich denn nicht geschämt?‘, fragten wir. ‚Warum? Sie vergnügen sich einfach und befriedigen ihre besonderen Gelüste.‘“ 18
Dieses und viele ähnliche Erlebnisse bestärkten Qutb in seiner Auffassung, dass sexuelle Freizügigkeit unvermeidlich zu Abartigkeit führte. Amerika war gerade erschüttert worden durch eine breit angelegte wissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel Das sexuelle Verhalten des Mannes, die Alfred Kinsey zusammen mit Kollegen von der Universität von Indiana herausgebracht hatte. Das 800-Seiten-Werk, vollgestopft mit überraschenden Statistiken und erstaunlichen Kommentaren, zerschmetterte die überkommene viktorianische Prüderie Amerikas wie ein Ziegelstein bemaltes Fensterglas. Kinsey berichtete, dass 37 Prozent der amerikanischen Männer, die er für seine Untersuchung befragt hatte, homosexuelle Erfahrungen bis hin zum Orgasmus gemacht hatten, dass fast die Hälfte schon außereheliche Affären gehabt und 69 Prozent sich bei Prostituierten Sex erkauft hatten. Der Spiegel, den Kinsey Amerika vorhielt, zeigte ein Land, das sich zügellos der Lust hingab, aber auch verwirrt,
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