Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
zur Lehrerausbildung nach Kairo geschickt hatte. 9 Sein Vater starb 1933, als Qutb 27 Jahre alt war. In den folgenden drei Jahren war er in verschiedenen Schulen in den Provinzen als Lehrer tätig, bis er schließlich nach Helwan versetzt wurde, einem wohlhabenden Vorort von Kairo, wohin er bald seine Familie nachholte. Seine streng konservative Mutter wurde dort nie richtig sesshaft; sie beobachtete argwöhnisch die unterschwelligen ausländischen Einflüsse, die in Helwan viel spürbarer waren als in dem Dorf, aus dem sie stammte. Diese Einflüsse dürften auch ihrem gebildeten Sohn nicht verborgen geblieben sein.
Während er in seiner Luxuskabine betete, war Sajid Qutb noch immer unschlüssig. Sollte er „normal“sein oder „etwas Besonderes“? Sollte er den Versuchungen widerstehen oder sich ihnen ergeben? Sollte er treu an seinen islamischen Überzeugungen festhalten oder sie beiseite schieben für den Materialismus und die Sündhaftigkeit des Westens? Wie jeder Pilger unternahm auch er zwei Reisen: eine nach außen, in eine größere Welt, und eine nach innen, in seine eigene Seele. „Ich habe mich entschlossen, ein echter Muslim zu sein!“, bekannte er schließlich. 10 Doch zugleich fragte er sich: „Bin ich wirklich wahrhaftig oder war das nur eine Laune?“
Seine Gedankengänge wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Vor seiner Kabine stand ein junges Mädchen, das er später als schlank und groß und „halbnackt“beschrieb. 11 Sie fragte ihn auf Englisch: „Darf ich heute Abend Ihr Gast sein?“
Qutb antwortete, in seiner Kabine gebe es nur ein Bett.
„In einem Bett haben auch zwei Menschen Platz“, erwiderte sie.
Angewidert warf Qutb die Tür vor ihr zu. „Ich hörte, wie sie draußen auf den Holzboden stürzte, und begriff, dass sie betrunken war“, erinnerte er sich. „Ich dankte sogleich Gott dafür, dass er mir die Kraft gegeben hatte, der Versuchung zu widerstehen und an meinen moralischen Überzeugungen festzuhalten.“
Dies war der Mann - ein bescheidener, stolzer, gepeinigter, selbstgerechter Mensch -, dessen einsamer Genius den Islam erschüttern, Regimes in der gesamten arabischen Welt bedrohen und zu einem Leuchtfeuer werden sollte für eine ganze Generation entwurzelter junger Araber, die nach einem Sinn und einem Ziel in ihrem Leben suchten und es schließlich im Dschihad finden sollten.
Als Qutb in New York ankam, waren dort gerade die prunkvollsten Weihnachtsfeierlichkeiten im Gange, die das Land je erlebt hatte. 12 Im Nachkriegsboom verdiente jeder gutes Geld - die Kartoffelfarmer in Idaho, die Autoarbeiter in Detroit, die Banker an der Wallstreet -, und der wachsende Wohlstand stärkte den Glauben an das kapitalistische Wirtschaftssystem, das in der Weltwirtschaftskrise einer so schmerzhaften Prüfung unterzogen worden war. Arbeitslosigkeit erschien nun fast wie etwas Unamerikanisches; die offizielle Arbeitslosenrate lag unter vier Prozent, das hieß, jeder, der einen Job wollte, bekam auch einen. Die Hälfte des Reichtums der Welt befand sich mittlerweile in amerikanischer Hand. 13
Den Kontrast zu Kairo muss Qutb als besonders bedrückend empfunden haben, als er durch die Straßen New Yorks wanderte, die in festlichem Glanz erstrahlten. Die Schaufenster der Geschäfte waren ausladend bestückt mit Geräten, die er nur vom Hörensagen kannte - Fernseher, Waschmaschinen -, und in jedem Kaufhaus sprangen ihm die Wunder der Technik in überwältigender Fülle entgegen. Neu errichtete Bürotürme und Wohnblöcke füllten die Lücken in der Skyline von Manhattan zwischen dem Empire State Building und dem Chrysler-Gebäude. Im Stadtzentrum und in den Außenbezirken wurden gewaltige Wohnanlagen gebaut, um die Massen von Einwanderern unterzubringen.
Es passte zu dieser lebhaften und optimistischen Stadt, die in ihrer kulturellen Vielfalt ihresgleichen suchte, dass hier das sichtbarste Symbol der neuen Weltordnung entstand: der Gebäudekomplex der Vereinten Nationen, der über dem East River emporwuchs. Die Vereinten Nationen waren der machtvollste Ausdruck des entschiedenen Internationalismus, des Erbes des Krieges, doch schon die Stadt selbst verkörperte die Träume von universeller Harmonie viel eindrucksvoller, als jede Idee oder Institution es vermochte. Die Welt strömte nach New York, denn hier waren die Macht und das Geld zu Hause und die kulturelle Energie, die alles umwandelte. Fast eine Million Russen lebten in der Stadt, eine halbe Million Iren
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