Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
geringen Unterschied zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen System; beide, so glaubte er, sorgten sich nur um die materiellen Bedürfnisse der Menschen und ließen deren geistige Sehnsüchte unerfüllt. Er prophezeite, dass Amerika, wenn der gewöhnliche Arbeiter eines Tages seine Hoffnung aufgeben würde, dass auch er reich werden könne, unvermeidlicherweise in den Kommunismus abgleiten werde. Das Christentum würde diese Entwicklung nicht verhindern können, denn es existierte nur im Bereich des Geistes - „wie eine Vision in einer reinen, idealen Welt“. 29 Der Islam dagegen sei ein „vollständiges System“mit Gesetzen, sozialen Normen, wirtschaftlichen Regeln und einer eigenen Regierungsform. 30 Nur der Islam habe eine Formel für die Schaffung einer gerechten und guten Gesellschaft zu bieten. Der eigentliche Kampf werde nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus ausgetragen werden, sondern zwischen dem Islam und dem Materialismus. Und der Islam werde dabei unweigerlich den Sieg davontragen.
Der Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen war Weihnachten 1948 zweifellos weit jenseits der Vorstellungswelt der New Yorker. Aber trotz des neuen Wohlstands, der sich in der Stadt ausbreitete, und der Selbstgewissheit, die mit dem Sieg einherging, war eine allgemeine Zukunftsangst zu spüren. „Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte erscheint die Stadt zerstörbar“, hatte der Essayist E. B. White in diesem Sommer geschrieben. „Ein einziges Flugzeuggeschwader, nicht größer als ein Schwarm Wildgänse, kann dieser Trauminsel schnell ein Ende bereiten, die Türme niederbrennen, die Brücken zum Einsturz bringen, die Röhren der Untergrundbahnen in Todeskammern verwandeln und Millionen Menschen zu Asche verbrennen.“Whites Text wurde am Beginn des Nuklearzeitalters geschrieben, als das Gefühl für die eigene Verletzlichkeit noch ganz neu war. „Für den Geist eines irregeleiteten Träumers, der den Blitz auslösen kann“, bemerkte er, „muss New York einen unwiderstehlichen Reiz ausüben.“ 31
KURZ NACH BEGINN des neuen Jahres zog Qutb nach Washington, wo er am Wilsons Teachers College Englisch studierte. 32 (Das Wilson Teachers College schloss sich 1977 mit drei weiteren Instituten zur Universität des District of Columbia zusammen.) „In Washington kann man gut leben“, bekannte er in einem Brief, „vor allem, da ich in unmittelbarer Nähe der Bibliothek und meiner Freunde wohne.“Er verfügte über ein großzügiges Stipendium der ägyptischen Regierung. „Ein gewöhnlicher Student muss mit 180 Dollar im Monat auskommen“, schrieb er. „Ich aber gebe im Monat zwischen 250 und 280 Dollar aus.“ 33
Obwohl Qutb aus einem kleinen Dorf in Oberägypten stammte, entdeckte er in Amerika „eine Primitivität, die an die Zeit der Dschungel- und Höhlenbewohner erinnert“. 34 Gesellschaftliche Zusammenkünfte seien geprägt durch oberflächliches Geschwätz. Die Menschen besuchten zwar Museen und Symphoniekonzerte, aber nicht um dort etwas zu sehen oder zu hören, sondern aus dem narzisstischen Verlangen heraus, von anderen gesehen und gehört zu werden. Die Amerikaner legten zu wenig Wert auf Förmlichkeit, beobachtete Qutb. „Ich bin hier in einem Restaurant“, schrieb er an einen Freund, „und vor mir sitzt ein junger Amerikaner. Anstelle einer Krawatte prangt auf seinem Hemd das Bild einer orangefarbenen Hyäne, und auf dem Rücken hat er anstatt einer Weste eine Kohlezeichnung eines Elefanten. Das ist der amerikanische Farbengeschmack. Und dann erst die Musik! Das will ich mir für später aufheben.“Das Essen, so klagte er, „ist sehr eigenartig“. Er berichtete von einem Erlebnis in der College-Cafeteria, wo er eine junge Amerikanerin beobachtete, die eine Melone mit Salz bestreute. Er sagte boshaft zu ihr, dass die Ägypter Pfeffer bevorzugten. „Sie versuchte es und meinte, das schmecke köstlich! “, schrieb er. „Am nächsten Tag erklärte ich ihr, dass manche Ägypter lieber Zucker auf die Melonen streuen, und auch das fand sie schmackhaft.“ 35 Selbst über die Frisuren schimpfte er. „Immer wenn ich beim Friseur war, komme ich nach Hause und richte mir die Haare mit den eigenen Händen.“ 36
Im Februar 1949 ließ sich Qutb in der George-Washington-Universitätsklinik die Mandeln entfernen. Dort entsetzte ihn eine Krankenschwester, die unverblümt schilderte, welche Qualitäten sie an einem Liebhaber schätze. Er war bereits auf der Hut vor dem forschen
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