Der Todesbote
könnte wieder an einen solchen Tatort gerufen werden.«
»Haben Sie das Erlebte je mit Ihren Angehörigen besprochen? Oder haben Sie versucht, das Erlebte durch ein Gespräch mit einem Psychologen, einem Fachmann, zu verarbeiten?«
Der grauhaarige Polizist überlegt kurz und sagt dann: »Nein.
Denn ich bin mir ganz sicher, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mir meine Albträume nehmen kann. Ich versuche alleine damit fertig zu werden. Dabei bin ich mir ganz sicher, es gelingt mir nicht.«
Die Jugend des Täters
Die Kindheit des späteren Serienmörders Anatolij Onoprienko endet abrupt mit dem Tod seiner Mutter. Damals war er gerade 11 Jahre alt. Angeblich soll sein Vater die Frau eigenhändig ermordet haben. Viele Tatsachen sprechen dafür, doch polizeiliche Ermittlungen wurden in diesem Falle nie durchgeführt.
In der Ukraine und in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion besteht eine hohe Gewaltbereitschaft der Männer gegen ihre Familien und Ehefrauen. Es ist äußerst selten, dass solche Straftaten strafrechtlich verfolgt werden. Die Verrohung der Menschen hat ganz im Gegenteil sogar eher zugenommen.
Die scheinbar so sichere häusliche Idylle ist durch die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit und die Wahrnehmung der unmittelbaren brutalen Umwelt längst entgleist.
Nach dem Tod der Mutter kommt Anatolij in ein Waisenhaus in einem kleinen Dorf auf dem Land, während sein Bruder beim Vater bleiben darf. Die Tatsache, dass er derart abgeschoben wurde, könnte ein Auslöser gewesen sein für seinen lebenslangen, krankhaften Hass auf intakte Familien, der sich schließlich in einer sieben Jahre andauernden Mordserie entlädt.
Im Waisenhaus wird er im sozialistischen Sinn erzogen. Eine Skulptur des jungen Lenin steht im Mittelpunkt des großen Parks vor dem Haupthaus des gepflegt wirkenden Heimes für Kinder ohne Eltern. Doch auch Anatolij Onoprienko, dem kleinen Jungen, hat die Philosophie Lenins nicht weitergeholfen. Insgesamt sieben Jahre seines Lebens, für ihn endlos lange Jahre, verbringt er hier.
An den unscheinbaren Jungen von einst können sich die Heimleiter Furmanski noch erinnern. Die längst in Pension lebende Direktorin des Heimes, Nelli Furmanski, weiß noch heute: »Anatolij wirkte während seines Aufenthaltes in unserem Heim schweigsam und galt als problemlos.«
Bis zum Ende der 80er-Jahre hielt Onoprienko Kontakt zu dem Heimleiter-Ehepaar. Er besuchte sie, so oft er nur konnte, und die Familie nahm sich Zeit für ihren ehemaligen Bewohner.
»Wir sind nie aus unserem Dorf herausgekommen. Anatolij jedoch bereiste als Matrose die ganze Welt. Sie können sich sicher vorstellen, wie gespannt wir jedes Mal waren, als der Junge von einst von seinen großen Reisen erzählte. Wir waren ganz sicher, dass er seinen Weg gemacht hatte und zufrieden war mit dem, was er erreichte.«
Die noch immer resolut wirkende ehemalige Heimleiterin ist sich sicher: »Onoprienko berichtete stolz von seiner Arbeit, von seinem Leben als Matrose auf einem der berühmtesten Luxusliner der Sowjetunion. Wir waren fasziniert von den Erzählungen über die Reichen auf diesem Schiff. Wer kann sich so ein luxuriöses Leben, wie er es schilderte, in einem so kleinen Dorf schon vorstellen? Und glauben Sie mir, erzählen konnte Onoprienko wie kein anderer. Die Stunden, die er bei uns verbrachte, vergingen wie ihm Flug. Man glaubte förmlich, auf den Reisen selbst anwesend gewesen zu sein.«
Anatolij Onoprienko muss dieses Ehepaar geachtet und geliebt haben. Vielleicht waren sie ihm Ersatz für seine Eltern.
Anders sind seine relativ häufigen Besuche mit den zum Teil langen Anfahrtswegen nicht zu erklären. Häufig fuhr er stundenlang mit der Bahn vom Hafen am Schwarzen Meer zu dem entlegenen Dorf seiner Kindheitserinnerungen.
»Meist brachte er uns auch kleine Geschenke mit«, erzählt die ehemalige Leiterin weiter. »Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, es war im Jahre 1984. Er schenkte uns ein Holzbrett mit dem Wappen von Madrid, das er auf einer Spanienreise gekauft hatte. Begeistert erzählte er uns von den Schönheiten und Sehenswürdigkeiten dieses Landes, und wie heiß es dort zu dieser Jahreszeit gewesen wäre. Er war so stolz darauf, Matrose auf diesem Schiff zu sein und damit um die halbe Welt reisen zu können.«
Da mischt sich auch der Mann der ehemaligen Direktorin in das Gespräch ein: »Du wirst dich gar nicht mehr daran erinnern, aber dieses Geschenk habe ich bis zum heutigen Tage aufgehoben.
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