Der Todesstoss
hatten.
»Verschwinden wir. Es gibt eine Herberge, nicht weit von
hier. Vielleicht finden wir dort noch ein Quartier für die Nacht.«
Abu Dun sah ihn überrascht an. Anscheinend hatte er
erwartet, dass sein Freund irgendetwas unternehmen würde.
Und natürlich hatte Andrej darüber nachgedacht - aber er
wusste nichts über die Menschen hier, über ihre Beweggründe
und Absichten. Schließlich konnte er nicht die ganze Welt
retten.
»Lass uns gehen«, sagte er noch einmal.
»Ganz wie Ihr befehlt, Sahib«, grollte Abu Dun.
Andrej verzichtete auf eine Antwort. In den gut zehn Jahren,
die er den nubischen Piraten und Sklavenhändler nun kannte,
waren sie von Todfeinden zuerst zu widerwilligen Verbündeten
geworden und hatten später gelernt, einander so zu nehmen, wie
sie waren. Mittlerweile waren sie Freunde; aber es gab
Bereiche, in denen sie niemals eine Einigung erzielen würden.
Andrejs scheinbare Unverwundbarkeit gehörte dazu.
Sie sprachen selten über das Leben, das der Pirat und
Sklavenhändler geführt hatte, bevor das Schicksal sie
zusammengebracht hatte, aber Andrej vermutete, dass Abu Dun
während seiner Zeit als Seeräuber mehr Menschen getötet hatte,
als so mancher Söldner, und er wich auch heute noch keinem
Kampf aus. Andrej war dennoch der weit bessere
Schwertkämpfer und überlegenere Taktiker. Umso weniger
konnte Abu Dun verstehen, wie sehr es ihm zuwider war, die
Waffe gegen einen anderen Menschen zu erheben, obwohl aber vielleicht auch gerade weil - Andrej keinen Gegner zu
fürchten brauchte. Vielleicht war er einfach zu oft gezwungen
gewesen zu töten.
Sie banden die Pferde los, stiegen auf und wandten sich nach
Westen, in die Richtung, in die Andrej zuvor gedeutet hatte. Als
sie zehn Schritte weit gekommen waren, stieg auf der anderen
Seite des Hügels ein wirbelnder Funkenschauer zum Himmel
auf, und fast im gleichen Augenblick erscholl ein so gellender
Schrei, dass sich etwas in Andrej zusammenzuziehen schien.
Abu Dun zischte: »Hör gut hin, Hexenmeister. Vielleicht wird
dir der Klang den Geschmack des Nachtmahls versüßen, wenn
du dich daran erinnerst.«
Andrej schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm
auf der Zunge lag. Abu Dun wollte ihn reizen, aber das würde
er nicht zulassen. Es war Monate her, dass er das Schwert das
letzte Mal gezogen hatte, und noch länger, dass das letzte Mal
Blut auf der Klinge des Damaszenenschwertes gewesen war. Er
war des Kämpfens müde. Das vom Krieg geschüttelte Siebenbürgen hatte er nicht verlassen, um sich in einem neuen Krieg
wiederzufinden.
Nach einem Augenblick wiederholte sich der Schrei noch
gellender und noch entsetzlicher, und etwas in Andrej …
reagierte darauf.
Abrupt brachte er sein Pferd zum Stehen. Das Tier schnaubte
unwillig, und auch Abu Dun zog hart am Zügel. »Was?«
Andrej machte eine abwehrende Handbewegung und legte
den Kopf schräg, um zu lauschen. Der Schrei wiederholte sich
nicht, aber nun, da er einmal darauf aufmerksam geworden war,
spürte er es immer deutlicher: Es war kein Gefühl, das er
wirklich mit Worten hätte beschreiben können. Aber da war
plötzlich etwas Vertrautes in ihm: unersättlicher Hunger und
eine Gier, die umso schlimmer war, da sie kein bestimmtes Ziel
zu haben schien.
Auf der anderen Seite des Hügels war ein Wesen wie er.
Ein anderer Unsterblicher.
Oder, wie Abu Dun es ausgedrückt hätte, ein anderer
Hexenmeister.
»Was hast du?«, fragte Abu Dun noch einmal. Er klang
alarmiert.
Statt zu antworten riss Andrej sein Pferd in engem Bogen
herum und ritt den Hügel hinauf. Auf der anderen Seite stoben
keine Funken mehr, aber der Himmel glühte jetzt in einem
helleren Rot, und er hörte eine schrille Stimme, die verzweifelt
um Gnade flehte.
Andrej achtete ebenso wenig darauf wie die, denen dieses
verzweifelte Flehen vermutlich galt. Stattdessen lauschte er in
sich hinein. Die Präsenz des anderen Vampyrs war noch immer
zu spüren, aber sie hatte sich verändert.
Die unstillbare Gier, die so sehr Teil seines Wesens war, war
zum allergrößten Teil Furcht und Entsetzen gewichen.
Vielleicht war es auch die Stimme des anderen Vampyrs, die
dort drüben diese gellenden Schreie ausstieß.
Das Pferd kam immer langsamer voran. Seine Hufe fanden
auf dem lockeren Geröll, das diese Seite des Hanges bedeckte,
kaum Halt, und es drohte immer öfter auszurutschen. Vor allem
aber polterten die Steine, die das Tier lostrat, mit einem
derartigen Getöse den Hügel hinab,
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