Der Tomorrow-Code - Thriller
den Boden oder vielmehr auf das Dach zurück. Er löste den Blick von den Sternen und konzentrierte sich auf das Seil.
Niemals hätte er es über sich gebracht, auf die Brüstung eines einundzwanzig Stockwerke hohen Gebäudes zu steigen, wenn er sich nicht auf den einen entscheidenden Gegenstand hätte konzentrieren können, der ihn davor bewahren musste, in den sicheren und grausamen Tod zu stürzen: das Seil.
»Vergiss nicht, dass wir zusammenbleiben müssen«, sagte Rebecca, »sonst reißen wir die Haken aus dem Banner.«
Das Banner lag zwischen ihnen auf der Brüstung. Es war ungefähr zehn Meter lang und zu einer langen Vinylwurst zusammengerollt, deren Enden an ihren Gürteln befestigt waren. Tane glaubte zwar nicht, dass sich die Haken aus dem Banner lösen könnten, viel wahrscheinlicher war, dass es einen von ihnen in die falsche Richtung ziehen würde,und was dann geschehen könnte, wollte er sich lieber nicht ausmalen.
Rebecca stieg auf die Brüstung, und Tane folgte ihr, bevor er groß darüber nachdenken konnte. Die Bannerrolle glitt leise über den Rand und hing ausgestreckt zwischen ihnen.
Nur eine leichte Windbö erinnerte Tane daran, dass er sich hoch über dem Erdboden an der Außenseite eines Hochhauses befand, sonst wäre es kein Unterschied zu den vielen Trainingsstunden in der Kletterhalle oder zum Kletterkurs im Schullandheim gewesen.
Tane suchte Stand an der Außenseite des Gebäudes und spürte, dass er fest im Seil saß. Er blickte sich um. Der Mond hing bereits weit unten am Horizont und hüllte die Wohnblocks und die Bürotürme in der Umgebung in einen silbernen Mantel.
Er stieg ab, gab etwas Seil nach und suchte mit beiden Schuhen einen sicheren Tritt, bevor er sich an der Hochhausfassade weiter abseilte.
An einer Stelle glitt er mit dem Schuh ab und schlug mit dem Knie gegen die Hauswand. Zum Glück trug er Knieschoner und verletzte sich nicht.
Sie kamen an einem Fenster vorbei. Tane stockte der Atem, denn er sah genau in das Gesicht eines Wachmanns. Entsetzt schaute er zu Rebecca hinüber, doch sie legte nur warnend den Finger auf die Lippen. Als er sich wieder zum Fenster drehte, wurde ihm klar, warum sie so gelassen blieb.
Der Wachmann strich sich das Haar nach hinten und rückte seine Krawatte zurecht. Dann befeuchtete den Daumen und glättete die Augenbrauen. Er posierte wie ein Bodybuilder und reckte wie ein alter Filmstar das Kinn vor.
Tane begriff, dass die Fensterscheibe in dem hell erleuchteten Hotelkorridor wie ein Spiegel wirkte. Der Wachmann sah nur sich selbst; Tane sah er nicht, obwohl der direkt vor dem Fenster im Dunkeln am Seil hing.
Trotzdem warteten sie, bis der Wachmann sich umgedreht hatte, bevor sie weiter abstiegen.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, obwohl es nur ein paar Sekunden dauerte. Dann rief Rebecca: »Hier.« Eine Windbö trug ihre Stimme sanft zu ihm herüber.
Tane sah sich um. Er suchte nach einer großen, fest im Beton verankerten Befestigungsöse, konnte sie aber zunächst nirgends entdecken. Doch dann fand er sie. Sie diente normalerweise zum Festzurren der Fensterputzergondeln.
Genau für diesen Zweck war an dem Banner ein zusätzlicher Karabinerhaken befestigt. Tane drehte sich in der Hüfte, bis er den Karabiner in der Öse einhaken konnte. Doch bevor er das Banner von seinem Gürtel löste, überprüfte er noch einmal den Sitz des Karabiners. Dann zog er ein Vorhängeschloss aus seiner Tasche, schob den Bügel durch Karabiner und Öse hindurch und ließ es zuschnappen.
Das Schloss würde sich nur mit einer Eisensäge entfernen lassen.
Er sah zu Rebecca hinüber. Sie wartete schon auf ihn.
»Echt cool, oder nicht?«, fragte sie.
»Ja, cool«, erwiderte Tane, obwohl er sich alles andere als cool fühlte.
»Auf drei«, sagte sie.
Tane ergriff die Schnur, mit der das Banner zusammengebunden war, und wartete.
»Drei!«, rief Rebecca.
Lachend zog Tane die Leine und beobachtete, wie sich das Banner an der Fassade entrollte. Zwei Wochen sorgfältigster Planung trugen nun ihre Früchte. Das Transparent mit seinem wichtigen, welterschütternden Protestspruch zu ... was immer das Neueste von Rebeccas vielen Anliegen sein mochte ... hing an seinem Platz und wartete nun auf den Protestmarsch am folgenden Tag.
Rebecca grinste und deutete nach oben.
Tane stöhnte. Das Abseilen war die leichtere Übung gewesen; der Aufstieg erforderte eine viel größere Kraftanstrengung.
Er hakte seine Steigklemme in das Seil und schob sie, so
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