Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
gesehen, worauf er zurannte.
In letzter Sekunde erreichten sie die Säule, Simon kletterte an ihr hinauf, während Ashakida mithilfe von ein paar Balken, die an einer nahen Wand lehnten, auf die Uhr sprang. Unter ihnen schoss das Wasser vorbei und riss alles mit, was eben noch als Treibgut auf dem Boden gelegen hatte. Das Wasser stieg an und die Wellen leckten an der Säule, sie schienen nach ihren Füßen zu greifen. Doch die Säule war zu hoch für die Flut: Hier oben waren sie sicher.
Stumm sahen sie zu, wie das Wasser durch die Halle schoss. Ein Teil des Stundenflusses verschwand gurgelnd in dem Loch im Boden, der größte Teil jedoch floss weiter in einen Tunnel, der zur U-Bahn führte, wie ein Schild direkt neben dem Durchgang verriet.
Endlose Minuten später war alles vorbei, das Wasser schwoll ab, bis nur noch ein Rinnsal aus dem Stundentunnel in die Halle floss. Erleichtert kletterte Simon hinab auf den Boden, Ashakida sprang mit einem Satz von der Uhr.
»Jetzt haben wir eine Stunde«, sagte sie.
Simon hatte gerade genau dasselbe gedacht.
Nach einem letzten Blick hinauf zum Fenster, an dem immer noch Ira und Philja standen und sie beobachteten, gingen sie hinüber zum Stundentunnel. Sie kletterten über das liegen gebliebene Treibgut, schoben ein Plastikfass zur Seite und stiegen hinauf zu der Öffnung. Erst jetzt sahen sie, dass nicht Menschen, sondern das Wasser den Tunnel geschaffen hatte. Die Wände waren nicht gemauert, sondern bestanden aus Felsgestein und Ton, der Fluss hatte sich selbst einen Weg gesucht und den Tunnel aus der Erde ausgespült.
Sie winkten noch einmal Philja und Ira zu, dann betraten sie den nebelfeuchten Gang. Die Algen an der Wand glühten leicht, sie sogen wie die leuchtenden Seeanemonen im U-Bahnhof ihre Kraft aus dem Wasser. Simon schob das traurige Gefühl beiseite, das ihn überkommen hatte, als er Ira am Fenster hatte stehen sehen. Er vermisste sie. Doch es war richtig, dass er und Ashakida sie bei Philja zurückgelassen hatten.
Gemeinsam gingen sie in den Tunnel hinein. Der Weg war lang, länger als erwartet. Bald war Simon sich sicher, dass der Weg nicht zum benachbarten Hochhaus führte, wie Philja und die anderen Kinder es vermutet hatten. Sie mussten längst unter dem Hochhausturm hindurchgegangen sein. Er spürte, wie sein Magen zu kribbeln begann. Das konnte nur eines bedeuten: Sie näherten sich dem Tower.
»Was ist los?« Die Leopardin sah zu ihm. Sie spürte, dass er unruhig war.
Simon sagte ihr, was er fühlte.
Sie knurrte. »Wundert mich nicht. Wohin sonst als in den Tower sollten sie deinen Großvater gebracht haben?«
Schweigend gingen sie weiter. Sie kamen nur langsam voran, immer wieder versperrten vom Fluss mitgerissene Trümmer den Weg. Unruhig blickte Simon auf seine Uhr: Sie waren schon über eine halbe Stunde unterwegs – sie mussten sehr bald ein Versteck finden, um dem Stundenfluss zu entgehen.
Plötzlich fauchte Ashakida auf. Vor ihnen öffnete sich eine Halle, groß und lang gestreckt, mit Wänden aus Beton. Simon war fast schlecht, so heftig krampfte sich sein Magen zusammen. Ihm war klar: Sie hatten ihr Ziel erreicht, sie befanden sich direkt vor dem Tower.
Eilig kletterten sie über die Trümmer und Betonbrocken, die das Wasser hierhergespült hatte, und betraten die niedrige Halle. Das Kellergeschoss des Towers war leer, bis auf zwei Plastikfässer, die von der letzten Flut angespült worden waren und nun tropfnass auf der betongrauen Fläche lagen.
Plötzlich stutzte Simon. In der Mitte des Raumes, im Dämmerlicht kaum zu erkennen, war etwas. Auch Ashakida hatte etwas entdeckt. Gemeinsam gingen sie weiter. Endlich erkannte Simon, was er sah. Es war eine einsame Gestalt, sie saß zusammengesunken auf einem Stuhl. Simons Herz klopfte bis zum Hals. Täuschte er sich? Ihm fiel die Akkulampe ein, die ihm Ira mitgegeben hatte. Er holte sie hervor und drehte an der Kurbel. Dann richtete er den Lichtstrahl in die Tiefe der Halle. Sein Herz machte einen Sprung, als er erkannte, wer dort saß.
Er hatte seinen Großvater gefunden.
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»Opa!« Simon rief, ohne darüber nachzudenken, ob Drhans Soldaten ihn hören konnten. Erleichtert rannte er quer durch die verlassene Halle auf den Stuhl zu, auf dem sein Großvater saß. Ashakida, die aufgejault hatte, als sie den alten Mann erkannt hatte, setzte Simon mit eleganten Sprüngen nach.
»Opa, ich bin’s!« Er erschrak, als er ihn erreicht hatte, der Anblick war furchtbar: Mit
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