Der Tote am Steinkreuz
Crón ihr neugierig nachschaute.
K APITEL 20
Die Festhalle schien überfüllt. Crón hatte in ihrem Amtssessel Platz genommen. Fidelma hatte sie darum ersucht, denn es war ihr Recht als Tanist. Sie trug auch ihren bunten Mantel und die Wildlederhandschuhe ihres Amtes. Neben ihr saß ihre Mutter und starrte hochmütig in den Raum, als ginge sie alles ringsumher nichts an. Auf einem Sitz etwas seitlich unterhalb des Podiums lag Bruder Eadulf zurückgelehnt, noch blaß und mit Ringen um den Augen. Ein wenig besser ging es ihm offenbar schon, denn trotz aller Proteste Fidelmas hatte er sein Krankenbett verlassen. Neben ihm hatte der stämmige Dubán Platz genommen, vorgebeugt saß er da mit den Unterarmen auf den Knien. In der Mitte der Halle hatten sich Archú und Scoth niedergelassen, neben ihnen der Einsiedler Gadra mit Móen. Gadra lehnte sich zu Móen hin und übersetzte ihm das Geschehen. Seine Finger trommelten auf die erhobene Handfläche des jungen Mannes. Agdae rutschte unruhig auf einer Bank auf der anderen Seite der Halle neben Pater Gormán hin und her. Im Hintergrund der Halle saß die »Frau mit Geheimnissen«, Clídna, ganz allein, doch mit erhobenem Kopf, als erwarte sie, daß ihr jemand das Recht streitig machen würde, anwesend zu sein. Einige Stühle weiter hatte sich das Dienstmädchen Grella niedergelassen. Dubán hatte mehrere seiner Männer an den Türen der Halle postiert.
Fidelma stellte sich links von Crón unterhalb des Podiums auf.
»Es sieht so aus, als seien alle da«, bemerkte sie.
»Bist du bereit anzufangen?« fragte Crón.
Agdae rief von seinem Platz aus: »Aber Menma ist noch nicht hier. Sollte er nicht auch dabeisein? Schließlich hat er Ebers Leiche entdeckt und Móen als seinen Mörder erkannt.«
Crón schien beunruhigt.
»Ich habe ihn gestern losgeschickt, damit er die Rinder auf der Weide zusammentreibt. Seltsam, daß er noch nicht wieder hier ist. Sollten wir nicht auf ihn warten?«
»Ich fürchte, da könnten wir lange warten, Tanist von Araglin«, meinte Fidelma. »Nein, wir fangen an, denn ich habe nicht damit gerechnet, daß Menma hier anwesend wäre.«
»Was soll das heißen? Beschuldigst du Menma …?« setzte Cranat an und vergaß die Gleichgültigkeit, die sie zur Schau trug.
Fidelma hob die Hand.
»Alles zu seiner Zeit. Vincit qui patitur. Der Geduldige setzt sich durch.«
Erwartungsvolles Schweigen trat in der Halle ein, alle schauten gespannt auf Fidelmas schlanke, ruhige Gestalt. Sie betrachtete ihre erhobenen Gesichter und musterte eins nach dem anderen.
»Dies war eine der schwierigsten Untersuchungen, die ich je zu führen hatte«, begann sie. »Schwierig deshalb, weil man es normalerweise mit einem Mörder und einem Umfeld zu tun hat. In diesem eurem schönen Tal sah ich mich schließlich fünf gewaltsamen Todesfällen gegenüber, und zunächst schien es keinen Zusammenhang zwischen ihnen zu geben. Es hatte den Anschein, als passierten viele ganz verschiedene Dinge zur gleichen Zeit. Doch indem ich das zu Anfang annahm, irrte ich mich. Alles hängt zusammen und ist in der Mitte verbunden wie die Fäden eines riesigen Spinnennetzes. Alles läuft in einem Punkt zusammen, wo eine alles beherrschende Gestalt sitzt und die Fäden zieht.«
Sie hielt inne und ließ die Überraschung aufbranden und wieder verebben.
»Wo fangen wir an, dieses hauchdünne Netz von Täuschung zu zerreißen, in dem so viele Leben gefangen sind? Ich könnte im Zentrum beginnen und direkt auf die Spinne losgehen, die dort lauert. Damit aber ließe ich vielleicht der Spinne die Möglichkeit, auf einem Faden, der mir bisher entgangen ist, aus dem Netz zu flüchten. Deshalb werde ich am Rand beginnen und langsam, aber sicher die äußeren Fäden kappen, so daß die Spinne nicht mehr entrinnen kann.«
Crón beugte sich mit skeptischer Miene vor.
»Das klingt alles sehr poetisch, Schwester Fidelma. Kommst du mit deiner Rhetorik auch zur Sache?«
»Du kennst meine Methoden, Crón«, erwiderte Fidelma und musterte sie abschätzend, »und du hast gesagt, daß du sie zu würdigen weißt. Ich glaube nicht, daß ich mein Vorgehen rechtfertigen muß.«
Die Tanist errötete. Fidelma wandte sich wieder ihren Zuhörern zu.
»Fangen wir mit dem ersten Faden an. Das ist Muadnat vom Schwarzen Moor.«
»Was hat Muadnat mit dem Mord an meinem Gatten zu tun?« fragte Cranat mit schneidender Stimme. »Er war Ebers Freund und früher sein Tanist.«
»Mit Geduld macht man aus der Flachspflanze
Weitere Kostenlose Bücher