Der Tote am Steinkreuz
An diese Sitte hatte er sich nie ganz gewöhnt, denn in seinem eigenen Volk war es nicht üblich, jeden Tag ein Bad zu nehmen. Hier jedoch galt es als Mangel an gesellschaftlichem Schliff, nicht vor der Abendmahlzeit zu baden.
»Ihr bekommt eure Bäder«, versicherte Bressal, »aber es wird etwas dauern, denn ich habe nur meine eigenen zwei Hände zur Verfügung.«
»Mir macht es nichts aus, kalt zu baden«, erwiderte Eadulf rasch. »Ich bin sicher, Archú braucht auch kein warmes Bad.«
Der junge Mann zögerte und zuckte dann die Achseln.
Fidelma verzog unwillig das Gesicht. Sie schwor auf das korrekte Reinigungsritual.
»Scoth und ich werden Bressal helfen, das Wasser für unsere Bäder heiß zu machen«, erbot sie sich. »Ihr könnt derweil tun, was ihr wollt«, fügte sie mit einem tadelnden Blick auf Eadulf hinzu.
Bressal breitete entschuldigend die Arme aus.
»Ich bedaure die Unbequemlichkeit, Schwester. Kommt, ich zeige euch den Weg zum Badehaus. Für dich, Bruder, gibt es einen Bach neben der Herberge. Ihr könnt euch eine Lampe mitnehmen, wenn ihr dort baden wollt.«
Archú ergriff eine Lampe, obwohl er wenig begeistert aussah, nachdem er gehört hatte, wo er baden sollte.
Eadulf schlug ihm auf die Schulter.
»Komm, kleiner Bruder«, redete er ihm zu. »Ein kaltes Bad hat noch niemandem geschadet.«
Mehr als eine Stunde später setzten sie sich schließlich zum Essen nieder. In der Brühe waren Lauch und verschiedene Gewürze. Außerdem gab es Forellen, im Bach nebenan gefangen, und frischgebackenes Brot und Honigmet. Bressal war kein Anfänger in der Kochkunst.
Während er servierte, erzählte er ihnen allerlei Neuigkeiten aus der Gegend. Doch es war klar, daß er hier ganz allein lebte und bestimmt noch nichts von der Ermordung des Fürsten von Araglin gehört hatte. Davon berichtete ihm nun Archú, der seine neue Stellung als ein angesehener Mann in Araglin zur Geltung bringen wollte.
»Sind wir heute nacht die einzigen Reisenden auf diesem Weg?« fragte Fidelma in einer Gesprächspause.
»Ihr seid die einzigen Reisenden, die in dieser Woche hier übernachten«, antwortete Bressal. »Nicht viele benutzen diesen Weg nach Araglin.«
»Dann gibt es sicher noch andere Wege?«
»Es gibt noch einen anderen. Er kommt vom Osten des Tals, und man kann auf ihm den Süden, Lios Mhór, Ard Mór und Dún Garbháin erreichen. Auf diesem Weg hier gelangt man zu der großen Straße, die nördlich nach Cashel und südlich nach Lios Mhór führt. Warum fragst du, Schwester?« Eine leichte Neugier lag im Blick des Herbergswirts.
»Mir wurde gesagt, dies sei der einzige Weg nach Lios Mhór«, wandte Archú ein.
»Wer hat das gesagt?« wollte der Wirt wissen.
»Pater Gormán von Araglin.«
»Nun, auf dem östlichen Weg kommt man schneller nach Lios Mhór«, erwiderte Bressal. »Er sollte es besser wissen.«
Fidelma beschloß, das Thema zu wechseln, und deutete auf die Gesteinssammlung auf dem Seitentisch. »Du hast hier eine eigenartige Kollektion von Schmuckstücken, mein Freund.«
Bressal wehrte ab: »Gehört mir nicht. Ich hab sie nicht gesammelt. Mein Bruder Morna arbeitet in den Bergwerken westlich von hier in der Ebene der Minerale. Er hat diese Stücke bei seiner Arbeit zusammengetragen. Ich hebe sie ihm nur auf.«
Fidelma schien sich sehr für die Steine zu interessieren. Sie nahm sie in die Hand und drehte sie hin und her.
»Sie sehen faszinierend aus.«
»Morna sammelt sie schon seit Jahren. Erst vor ein paar Tagen kam er ganz aufgeregt hier an und sagte, er habe etwas entdeckt, was ihn reich machen werde. Er hatte ein Stück Stein bei sich. Wieso ein Stein ihn reich machen sollte, weiß ich nicht. Er blieb eine Nacht hier und ging am nächsten Tag wieder fort.«
»Welches Stück Stein hat er denn mitgebracht?« fragte Fidelma gespannt und musterte die Sammlung.
Bressal kratzte sich den Hinterkopf.
»Ich muß gestehen, da bin ich nicht sicher.« Er ergriff einen Stein und reichte ihn Fidelma. »Diesen hier vielleicht.«
Fidelma nahm ihn und wendete ihn hin und her. Ihrem ungeübten Auge erschien er wie ein einfaches Stück Granit. Sie reichte ihn dem Wirt zurück, und der legte ihn wieder auf den Tisch.
»Braucht ihr noch etwas, bevor ihr euch zur Ruhe legt«, fragte er in die Runde.
Archú und Scoth wollten sich gleich zurückziehen, während Eadulf um einen weiteren Becher Met bat und verkündete, er werde noch eine Weile am Feuer sitzenbleiben. Fidelma unterhielt sich mit Bressal,
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