Der Tote am Steinkreuz
denn Wirte können immer viel erzählen. Sie lenkte das Gespräch auf Eber. Bressal hatte Eber nur ein halbdutzendmal gesehen, wenn er sein Gebiet auf dem Weg nach Cashel verließ. Er konnte sich deshalb nur schwer ein Urteil über ihn bilden, meinte aber, er habe unterschiedliche Meinungen über ihn gehört. Manche hielten ihn für einen Tyrannen, während andere seine Freundlichkeit und Großzügigkeit priesen.
Es war noch ziemlich früh, als Fidelma ankündigte, sie werde zu Bett gehen. Bressal hatte ihr eine Ecke des Schlafraums reserviert, der das ganze obere Stockwerk einnahm. Sie wurde durch einen Vorhang abgeteilt, denn in diesen kleinen Herbergen gab es keine Einzelzimmer für die Gäste. Das Bett bestand nur aus einer Strohmatratze auf dem Boden und einer rauhen Wolldecke. Es war sauber, warm und gemütlich, und mehr brauchte sie nicht.
Ihr schien, als habe sie gerade erst ihr Haupt auf das Stroh gebettet, als sie aufgeschreckt wurde. Eine warme Hand hatte ihren Arm ergriffen und drückte ihn sanft. Sie blinzelte und wollte sich wehren, doch eine Stimme flüsterte: »Still. Ich bin’s.«
Es war Eadulfs Stimme.
Sie lag einen Moment ruhig da.
»Es stehen ein paar bewaffnete Männer vor der Herberge«, fuhr Eadulf so leise fort, daß sie ihn kaum verstehen konnte.
Fidelma sah, daß ein seltsames graues Licht durch das Fenster drang, und obwohl sie durch die unverhüllte Öffnung noch ein oder zwei winzige Sterne erblicken konnte, begriff sie, daß die Morgendämmerung nicht mehr fern war.
»Was beunruhigt dich an diesen Bewaffneten?« fragte sie Eadulf ebenso leise.
»Der Hufschlag weckte mich vor fünfzehn Minuten«, erklärte ihr Eadulf leise. »Ich sah hinaus und erkannte die Schatten von einem halben Dutzend Reitern. Sie ritten wortlos heran, kamen aber nicht ins Haus. Sie versteckten ihre Pferde im Wald da drüben und postierten sich zwischen den Bäumen vor der Tür der Herberge.«
Fidelma richtete sich rasch auf. Jetzt war sie hellwach.
»Geächtete?«
»Vielleicht. Mir scheint, sie haben nichts Gutes im Sinn, denn sie alle führen Bogen.«
»Hast du Bressal geweckt?«
»Ihn als ersten. Er ist unten und versperrt die Türen für den Fall, daß wir angegriffen werden.«
»Ist er schon einmal angegriffen worden?«
»Noch nie. Manchmal werden die reicheren Herbergen an der Hauptstraße zwischen Lios Mhór und Cashel von Trupps Geächteter überfallen und beraubt. Doch warum sollte sich jemand diese einsame Herberge als Ziel für einen Überfall aussuchen?«
»Sind die jungen Leute wach?«
»Die jungen Leute? Ach, du meinst Archú und Scoth. Noch nicht. Ich kam erst …«
Ein eigenartiges pfeifendes Geräusch drang von außen herein, und Fidelma spürte einen leichten Feuergeruch. Das zweite Pfeifen war kaum zu hören: ein Pfeil sauste durch das Fenster und blieb in der Wand stecken. Er war mit Stroh umwunden, das man angezündet hatte. Jetzt hörte man, wie draußen ein Mann Befehle erteilte.
Fidelma sprang von ihrem Bett auf.
»Wecke die anderen. Wir werden angegriffen.« Der letzte Satz war überflüssig, denn ein weiterer Brandpfeil zischte ins Zimmer und grub sich in den Fußboden ein. Sie lief hinzu und packte ihn ohne Rücksicht auf die hungrigen Flammen. Mit kurzer Drehung schleuderte sie ihn aus dem Fenster und schickte den ersten Pfeil gleich hinterher. Rasch zog sie sich das Gewand über den Kopf und riß fast mit derselben Bewegung die Vorhänge herunter, damit nicht ein Pfeil sie in Brand setzte. Archú war von Eadulf geweckt worden und lief herbei, um ihr zu helfen.
»Bleib hier«, wies Fidelma ihn an. »Duck dich, und wenn Brandpfeile im Zimmer landen, tritt sie aus.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, eilte sie die Treppe hinunter in den Hauptraum.
Bressal, der Wirt, war damit beschäftigt, einen Bogen zu spannen. Offensichtlich hatte er keine Übung darin, denn er stellte sich ungeschickt an.
Er blickte auf, sein sonst so fröhliches Gesicht lag in Zornesfalten.
»Geächtete!« brummte er. »Ich hab noch nie Geächtete in diesen Wäldern gesehen. Ich muß die Herberge verteidigen.«
Eadulf kam die Treppe heruntergeprescht.
»Du sagtest, du hast diese Leute gesehen«, empfing ihn Fidelma. »Auf wie viele schätzt du sie?«
»Ungefähr ein halbes Dutzend«, antwortete Eadulf.
Verzweifelt überlegte Fidelma, wie man die Herberge verteidigen könne.
»Hast du noch andere Waffen, Bressal?« fragte Eadulf. »Wir haben nichts, womit wir uns wehren können.«
Der
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