Der Tote am Steinkreuz
…«
»Du meinst, ich bin ungebührlich grob?« unterbrach ihn Fidelma ernst, wie ein Schüler, der einen Lehrer um Rat fragt.
Eadulf war verlegen. Wenn Fidelma in dieser Stimmung war, traute er ihr nicht. Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Meine Mutter hat mir mal gesagt, man könne eine Stickerei nicht mit der Axt auftrennen.«
Fidelma starrte ihn ehrlich überrascht an.
»Du hast deine Mutter noch nie erwähnt, Eadulf.«
»Sie lebt nicht mehr. Aber sie war eine kluge Frau.«
»Ich weiß ihre Klugheit zu schätzen. Aber wenn du an eine dicke geschlossene Holztür von Arroganz gerätst, mußt du manchmal die Axt nehmen und sie aufbrechen, ehe du mit dem Menschen dahinter reden kannst. Oft wird die normale Höflichkeit von arroganten Leuten für Schwäche gehalten oder sogar für Kriecherei.«
»Hast du dir wirklich den Weg zur Wahrheit aufgebrochen?«
»Ich bin der Wahrheit näher gekommen, als es mir sonst gelungen wäre, wenn ich die Türen verschlossen gelassen hätte. Aber ich stimme dir zu, daß es bis zur vollständigen Wahrheit noch ein weiter Weg ist.«
»Und wie gelangen wir dorthin?« wollte Eadulf wissen.
»Wenn wir gegessen haben, suche ich Dubán auf. Vielleicht können wir feststellen, ob dieses Schreckgespenst Gadra wirklich existiert. Wenn es ihn gibt und er mir zeigen kann, wie man sich mit Móen verständigt, dann sind wir der Wahrheit schon sehr viel näher. Wenn wir herausbekommen, was Móen weiß …«
Eadulf blieb skeptisch.
»Das war doch nur ein Ammenmärchen. Ein Schreckgespenst, das Kinderseelen stiehlt, na weißt du!«
»Hinter jedem Ammenmärchen steckt meistens ein Stück Wahrheit, Eadulf.«
»Du gehst von zu vielen Annahmen aus, Fidelma.«
»Wieso?«
»Du nimmst an, daß dieses Schreckgespenst existiert. Du nimmst an, daß Grella dir nicht etwas vorgeflunkert hat mit der Behauptung, Gadra habe Teafa gelehrt, sich mit Móen zu verständigen. Du nimmst auch nur an, daß es so eine Verständigungsmöglichkeit überhaupt gibt. Weiter nimmst du an, daß der Unglückliche Verstand besitzt und daß er dir etwas mitteilen wird, was das Geschehen erhellt. Und du gehst von der Annahme aus, daß er unschuldig ist.«
Fidelma lehnte sich zurück, legte die Hände auf den Tisch und sah Eadulf einen Moment an, bevor sie antwortete.
»Meine Annahmen gründen sich auf meinen Glauben an seine Unschuld. Den kann ich nicht erklären, und ich habe auch keine Beweise für ihn. Es ist ein Gefühl, eine Überzeugung, daß das, was meinen Sinnen falsch erscheint, auch wirklich falsch ist. Die Logik sagt, daß das, was als Wahrheit behauptet wird, einem aber falsch vorkommt, auch falsch ist.«
»Ist nicht die Selbsttäuschung die schlimmste Täuschung?« erwiderte Eadulf.
»Du glaubst, ich täusche mich selbst?«
»Ich versuche dich nur daran zu erinnern, daß das, was so zu sein scheint, auch wirklich so sein könnte.«
Fidelma lachte leise und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Eadulf, du bist die Stimme des Gewissens. Wenn ich zu sehr schwärme, zügelst du meinen Überschwang. Dennoch werden wir dieses Schreckgespenst Gadra aufspüren, falls es denn existiert.«
Eadulf seufzte.
»Ich hatte keinen Zweifel daran, daß wir das tun werden.«
Fidelma erhob sich und ging Dubán suchen.
Crítán stand bei den Ställen auf Wache, und er erklärte Fidelma nach einigen Hin und Her, daß Dubán sich zur Zeit nicht im rath aufhielt. Er war nicht gerade mitteilsam.
»Er mußte mit einigen Kriegern zu den hochgelegenen Weiden.«
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Fidelma. »Warum sind sie jetzt noch losgeritten, es wird doch gleich dunkel?«
»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Crítán. »Ihr braucht euch nicht zu fürchten, solange Männer diesen rath bewachen, Schwester.«
Fidelma unterdrückte eine scharfe Erwiderung.
»Trotzdem, aus welchem Grund ist Dubán fortgeritten?« drängte sie.
»Es kam die Nachricht von einem Rinderraub in einem der einsamen Bauernhöfe jenseits der Berge.«
»Ein Raubüberfall?« Das interessierte sie. »Weiß man, wer ihn verübt hat?«
»Das wollen sie eben herausfinden. Wahrscheinlich dieselben Leute, die vor ein paar Wochen in dieses Tal einfielen. Ich hätte mit Dubán reiten sollen, aber statt dessen erhielt ich den Befehl, hierzubleiben und mich um diese Kreatur, diesen Móen, zu kümmern. Das ist nicht gerecht.«
Fidelma kam der junge Krieger eher wie ein schmollendes Kind vor denn wie ein, erwachsener Mann.
»Als Krieger«, sagte sie
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