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Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
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nach Hause. Trink ein Bier und vergiß das hier.«
    »Ich vermisse ihn«, sagte Lennart schluchzend. »Mein kleiner Bruder.«
    Micke legte die Hand auf seine Schulter.
    »Das weiß ich doch, Lennart, John war der Beste von uns.«

21
    Ann Lindell zog Erik den Overall an. Seine Augen folgten aufmerksam ihren Bewegungen. Für einen Moment hielt sie inne. Ähnelt er mir, dachte sie, oder seinem Vater, dem abwesenden Ingenieur, den sie eines Abends getroffen hatte, und dann nie wieder. Er wußte nicht einmal, daß er Vater geworden war, oder ahnte er es etwa? Nein, wie sollte er? Aber vielleicht hatte er sie, ohne daß sie davon wußte, hochschwanger in der Stadt gesehen und sich ausgerechnet, daß er der Vater ihres Kindes sein könnte. So schlau sind Männer nicht, dachte sie und lächelte. Erik erwiderte ihr Lächeln.
    »Aber du bist schlau«, sagte sie und bugsierte die kleinen Finger durch den Ärmel.
    Sie hatte einen Termin bei der Kinderärztin. Erik hatte im letzten Monat ab und zu juckenden Ausschlag bekommen, und sie wollte herausfinden, woran das lag. Ihre Eltern würden über Weihnachten zu Besuch kommen und ihre Mutter ihr mit Fragen zu Eriks Ausschlag zusetzen. Schon aus diesem Grund dürfte es nicht verkehrt sein, die Ärztin zu konsultieren.
    Sie holte den Kinderwagen, der im Hauseingang stand, und beschloß, zu Fuß in die Stadt zu gehen. Sie hatte zugenommen. Ihre Brüste waren größer, ihre Oberschenkel dicker geworden, und ihr flacher Bauch war nur noch eine Erinnerung. Das beunruhigte sie zwar nicht sonderlich, aber sie wußte, daß eine Frau in ihrem Alter leicht das eine oder andere Pfund zulegte. Die Gewichtszunahme hing sicherlich mit ihrer neuen Lebensweise zusammen. Sie bewegte sich weniger und aß öfter und mehr. Es war eine ihrer Schwächen, gerne ein bißchen zuviel zu essen, sich etwas Leckeres zu gönnen. Sie hatte sich auch früher schon nicht oft mit Freunden getroffen, aber jetzt verabredete sie sich noch seltener mit anderen. Statt dessen blieb sie lieber zu Hause, sah fern, aß einen guten Käse oder Nachtisch und frönte damit einem Lebensstil, an den sie sich erstaunlich schnell und mühelos gewöhnt hatte. Dennoch sehnte sie sich nach ihrer Arbeit, dem Streß, dem Kontakt zu den Kollegen und der Spannung, die es stets bedeutet hatte, sich unter Menschen zu bewegen. Zu Beginn ihres Erziehungsurlaubs war sie sehr erleichtert gewesen, aber in letzter Zeit wurde sie immer rastloser.
    Zur Zeit kümmerte sie sich weder um Ermittlungen, noch nahm sie an »Morgengebeten« teil, auch weckten sie keine Anrufe, in denen es um Gewalt und menschliches Elend ging. Sie hatte das Gefühl, frei von jeder Verantwortung zu sein. Mit Erik kam sie erstaunlich gut zurecht. Solange er einigermaßen regelmäßig etwas zu essen und genügend Schlaf bekam, war alles im Lot. Nicht einmal banale Koliken hatte er. Das erste wirkliche Problem waren die Pusteln auf seiner Haut.
    Zwanzig Minuten später war sie im Stadtzentrum. Sie schwitzte in ihrem Mantel. Früher hatte sie praktisch nie einen getragen, sondern eine kurze Jacke oder einen Pullover.
    »Du bist ja eine richtige Dame geworden«, hatte Ottosson gesagt, als sie das letzte Mal im Kommissariat gewesen war, um ihn und die anderen zu besuchen.
    »Er meint, eine alte Schachtel«, hatte Sammy Nilsson eingeworfen.
    Die beiden Männer hatten sie auf eine Art angesehen, wie sie es noch nie zuvor getan hatten. So kam es ihr jedenfalls vor, und sie war sich nicht sicher, wie sie dies finden sollte. Sie war stolz darauf, Mutter zu sein, Mutter eines Sohnes, um den sie, und nur sie, sich kümmerte. Das war vielleicht keine Heldentat, Millionen von Müttern hatten das gleiche getan, und zwar ohne Entbindungsstationen und Kontrolluntersuchungen, aber jetzt war sie, Ann Lindell, Mutter. Niemand konnte ihr den Stolz darauf nehmen.
    Empfanden Männer ähnlich, fragte sie sich manchmal, und vermutete, daß sie zu wenig über Männer wußte, um darüber etwas sagen zu können. Sie war zwar Vätern begegnet, die mit seligem, fast kindischem Blick den Kinderwagen schoben, aber empfanden sie wirklich den gleichen Stolz?
    Sie hatte keinen Mann, den sie fragen konnte. Edvard, den Mann, den sie am besten kannte, hatte es bedrückt, daß sein Verhältnis zu seinen Söhnen so schlecht war. Hätte eine Frau weggehen können, wie er es getan hatte?
    Im Grunde hatte sie ihre selbstgezimmerten, quasiphilosophischen Exkurse reichlich satt, dennoch waren sie da. Ann Lindell hatte

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