Der Tote im Schnee
Brüder standen einander wirklich nahe. Es gab bei ihnen einen Zusammenhalt, der über das Übliche weit hinausging, und es wundert mich nicht, daß Lennart Jagd auf den Meuchler seines Bruders macht.«
Meuchler, dachte Lindell. Es kam ihr so vor, als wollte Ottosson das Wort »Mörder« nicht mehr in den Mund nehmen.
»Erzähl mir vom kleinen John.«
Ottosson ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich.
»Du willst keinen Tee?«
Lindell schüttelte den Kopf.
»Er war im Grunde nicht besonders schlau«, begann der Leiter des Kommissariats. »Er war schon jemand, der viel nachdachte, aber ich glaube, daß sein Blickwinkel oft zu beschränkt war. Er begeisterte sich für eine Sache und verbiß sich in sie, als hätte er nicht die Phantasie oder den Mut, sie wieder fallenzulassen.«
»Halsstarrig?«
»Genau, und nicht zu knapp, es war eine Sturheit, die mir letzten Endes auch wieder gefiel. Bei seinen Fischen machte ihm keiner was vor, und ich glaube, das war seine Rettung.«
»Oder sein Tod«, warf Lindell ein, bereute ihre Worte jedoch augenblicklich, als sie Ottossons Miene sah.
»Er wurde der Beste in etwas, und ich glaube, das hat er gebraucht, denn er hat sein Leben lang unter geringem Selbstvertrauen gelitten. Berglund meint, daß es mit seinem ganzen Umfeld und seiner Kindheit zusammenhing. Man sollte nicht auffallen.«
»Und was denkst du?«
Ottosson stand auf und ging wieder zum Fenster, ließ die Jalousie herunter und winkelte sie so, daß Licht hereinfiel, aber es wurde dennoch merklich dunkler im Raum. Typisch Dezember, dachte Lindell. Ottosson schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn ehe er sich wieder an seinem Schreibtisch niederließ, zündete er drei Kerzen in einem Kerzenständer an, der auf dem Fensterbrett stand.
»Schön«, sagte sie.
Ottosson lächelte schief, zufrieden und ein wenig verlegen.
»Was ich denke?« setzte er wieder an. »Vielleicht, daß John hier alles zu eng wurde. Weißt du, er wollte einfach so viel. Ich glaube, er träumte von einem anderen Leben.«
Ottosson verstummte, und Lindell ahnte, daß er zum ersten Mal seine Überlegungen zum kleinen John zur Sprache brachte.
»Was sagt denn seine Frau?«
»Gar nichts. Sie ist wie in Trance. Der Junge ist schwerer zu durchschauen.«
Ottosson ging nicht genauer darauf ein, in welcher Hinsicht Justus schwer durchschaubar war, sondern erzählte weiter von den beiden Brüdern. Offenbar hatte vor allem Berglund versucht, sich einen Überblick über ihre Geschichte zu verschaffen. Lindell fand, daß er der richtige Mann dafür war. Er war schon ein wenig älter, stammte aus Uppsala und strahlte Sicherheit aus. Kurzum, er war wie geschaffen für einen solchen Auftrag. Sammy hätte das nicht hinbekommen, Beatrice auch nicht, Haver vielleicht.
Hätte sie selber in den Arbeitervierteln herumlaufen und versuchen können, sich ein Bild von den Brüdern Jonsson zu machen? Sie bezweifelte es.
Jemand klopfte an die Tür; Sammy schaute herein.
»Hallo, Ann«, sagte er hastig. »Wir haben was«, meinte er anschließend eifrig an Ottosson gewandt. »Die Mordwaffe.«
Er hielt eine Plastiktüte mit einem großen Messer hoch.
»Die Jugendgruppe hat einen jungen Typen verhaftet. Er trug es bei sich, in den Hosenbund gesteckt.«
»Das ist groß«, bemerkte Lindell.
»Einundzwanzig Zentimeter lang«, erklärte Sammy grinsend. »Ein französisches Fabrikat.«
»Warum ist der Mann verhaftet worden?«
»Es gab eine Schlägerei in der Stadt, und er hat einen anderen mit dem Messer bedroht.«
»Ist er unser Mann?«
»Ich kenne ihn und kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Er ist fünfzehn, ein richtiger Rabauke, aber kein Mörder.«
»Vielleicht jemand, der im Affekt tötet?«
Sammy schüttelte den Kopf.
»Ausländer?«
»Nein, Schwede, Mattias Andersson. Wohnt mit seiner Mutter im Stadtteil Svartbäcken.«
»Wieso glaubst du, daß es die Mordwaffe ist?«
»Johns Blut sowohl an der Klinge als auch am Schaft«, antwortete Sammy. »Bohlin hat die Blutflecken gesehen und eine Analyse veranlaßt, deren Ergebnis mit Johns Blutgruppe übereinstimmte.«
»Bohlin von der Jugendgruppe?«
»Genau der.«
»Das war gute Arbeit«, meinte Ottosson. »Was sagt Mattias Andersson dazu?«
»Wir holen ihn gerade«, sagte Sammy.
Er sah Lindell an, und sie glaubte etwas wie Triumph in seinem Gesicht wahrzunehmen, redete sich jedoch augenblicklich ein, daß sie sich geirrt haben mußte. Im gleichen Moment piepste Sammys Handy. Er
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