Der Tote in der Wäschetruhe
Disko. Die HO-Gaststätte Haus des Handwerks« ist beliebter Treffpunkt für die Jugendlichen der Stadt. In der Tasche ihrer ausgewaschenen Jeanshose stecken vier Mark. Das muss reichen für den Eintritt und ein paar Cola mit Schuss, wie es die Jugendlichen nennen, wenn noch ein Wodka mit im Glas ist. Sie hat die Summe in das Nachweisbuch für die Verwendung des monatlichen Taschengeldes eingetragen. Die Mutter verlangt das so. Wenn die Eltern in einer Woche vom Ostseeurlaub zurückkommen, schaut Mutti sofort nach der Buchführung, und wenn die nicht stimmt, gibt es Ärger, weiß die Tochter.
Kerstin freut sich auf die Disko. Sie hat ansonsten wenig Kontakt zu Gleichaltrigen. Die Mutter leidet an einer Lungenkrankheit, und so muss das Mädchen mehr häusliche Pflichten erfüllen als andere Mädchen und Jungen ihres Alters. Sie ver-lässt gegen 18.30 Uhr die Wohnung. »Ich gehe jetzt«, ruft sie der Oma zu, die während der Abwesenheit der Eltern ein Auge auf ihre Enkeltochter wirft. Sie geht den gewohnten Weg vorbei an der Wäscherei zur Fernverkehrsstraße F 101 und dort ein Stück die Straße hinauf zum HdW.
Für den 21-jährigen Kraftfahrzeugschlosser Bernd Burghard ist der »Schiepchenball«, wie der Jugendtanz der überwiegend 14- bis 16-jährigen Küken auch genannt wird, nichts mehr. Mit seinen 21 Jahren gehört er zur reiferen Jugend und hat bereits diverse Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Als er 17 Jahre alt ist, macht ihn eine drei Jahre ältere Pionierleiterin zum
Mann. Seither fällt es dem aufgeschlossenen und meist lustigen jungen Burschen nicht schwer, Intim-Partnerinnen zu finden. Seine Art, das Leben leicht zu nehmen, kommt an. Was also soll er auf dem »Schiepchenball«? An besagtem Mittwoch nach Ar-beitsschluss in der Handwerklichen Produktionsgenossenschaft »Gute Fahrt« fährt er nachmittags um halb vier mit dem Fahrrad lieber zu Susanne. Sie ist seine Hauptfreundin. Weil sie sich beim Sex eher zurückhält und weniger aktiv ist, was Bernd nicht ganz so toll findet, hat er gleichzeitig noch ein anderes Mädchen.
Von der weiß Susanne natürlich nichts. Liebevoll kuscheln die beiden miteinander, hören Musik, reden über dies und das. Auch über die Arbeit, die für Bernd eher Frust als Lust bedeutet. Eigentlich wollte Bernd lieber Kellner als »Autoschrauber« werden. Als Hilfskellner in der Gaststätte seiner Tante hat es ihm immer Spaß gemacht, die Leute voller Eleganz und stets mit einem flotten Spruch auf den Lippen zu bedienen. Sogar Gags mit vollen Gläsern auf dem Tablett gehörten zu seinem Repertoire. Vor Mädchen zeigte er seine Jonglierkünste besonders gern. Ihr Kreischen hat Bernd stets besonders gefallen und ihm die Brust vor Stolz schwellen lassen. Doch der Mutter, die als Expedientin in der Möbelbude arbeitet, und dem Vater, der als Zivilangestellter beim Volkspolizei-Kreisamt beschäftigt ist, war der Kellnerberuf nicht standesgemäß. Mit dem Instandsetzungsmechaniker für Textilmaschinen wurde es auch nichts. Er hätte von daheim ins Lehrlingswohnheim übersiedeln müssen. Wieder stand der Wille der Mutter dagegen. Sie wollte ihren manchmal störrischen und widerspenstigen Jungen lieber im Auge behalten. So erlernte er die Autoschlosserei bei der PGH »Gute Fahrt« in Bad Liebenwerda.
Für viele Jungs in der DDR ist das ein Wunschberuf. Nicht aber für Bernd Burghard. Mit 18 Jahren verpflichtet er sich freiwillig zur Nationalen Volksarmee als Berufssoldat. Doch der Traumberuf NVA-Offizier erfüllt sich nicht. Nie konnte man ungefragt in Ausgang gehen, musste stets pünktlich zurück sein, und mit den Vorgesetzten an der Offiziersschule war über deren vermeintlich unsinnigen Befehle nicht zu reden. Nach zwei Jah-ren voller Ermahnungen, Verwarnungen, Verweise, Arreste ist Schluss: Zwangsentpflichtung bei der NVA und Rausschmiss aus der SED.
Bernd Burghard hält es heute nicht lange bei Freundin Susanne. Nach dem gemeinsamen Abendbrot bricht er auf, um zu Hause das Motorrad zu reparieren. Die Karre zieht nicht so richtig. Wahrscheinlich ist der Vergaser zu oder die Zündkerze verdreckt, vermutet der Fachmann. Außerdem muss er für die PGH noch »Bestellkram« erledigen. Auf dem Heimweg kommt Bernd an der Betriebsgaststätte des VEB Zentronik vorbei. »Ich muss Zigaretten kaufen, die Schachtel ist fast leer«, fällt ihm ein. Er lehnt das Fahrrad an die Hauswand, und dort steht es lange. Denn es bleibt nicht bei den guten Vorsätzen, eine neue Schachtel Zigaretten
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